Die jungen Wilden

Schillers »Räuber« und das Leipziger Schauspielhaus haben in den zurückliegenden knapp zwei Jahrzehnten eine turbulente Beziehung geführt: Auf der einen Seite die legendäre Lesart von Regisseurin Konstanze Lauterbach im Jahr 1998 unter der Ära von Wolfgang Engel mit einer überragenden Isabel Schosnig als Amalia, ein Musterbild fragiler Schönheit, eine berührende Verletzlichkeit.

Auf der anderen Seite steht im Stammbuch die gründlich schiefgegangene Inszenierung von Regisseur Martin Laberenz im Jahr 2010 während der Intendanz von Sebastian Hartmann. Dieser Regietheaterrohrkrepierer, mit Presslufthämmern und dröhnender, schmerzender Klangkulisse hat einen nachhaltigen Schaden bei jungen Zuschauern hinterlassen, die glaubten, dies sei gutes Theater.

Ein neues Kapitel in diesem Beziehungsgeflecht schlägt die aktuelle Inszenierung der »Räuber« auf: Das Team um Regisseur Gordon Kämmerer, Dramaturgin Christin Ihle, Bühnenbildnerin Jana Wassong und Kostümbildner Josa Marx geht einen unkonventionellen Weg, indem die Geschlechterrollen hinterfragt werden. Karl Moor als Frau: beeindruckend Katharina Schmidt als androgyne Radikale. Amalia als Mann: gelungen Andreas Herrmann als traurig-komische Geliebte. Doch ist dieses Regiekonzept weniger Provokation, sondern eine spannende Suche nach dem Keim der Revolution. Die Dramaturgin Christin Ihle hat bereits vor der Premiere einen Einblick ins Inszenierungskonzept gegeben: Beim › Schiller-Kolloquium hat sie auf die soziologischen Aspekte der Radikalisierung eines Individuums hingewiesen. Die Aufhebung der Geschlechterrollen funktioniert. Es schärft den Blick und legt die wahren Motivationen frei, die aber jeder Zuschauer für sich selbst entdecken muss. Die Verletzlichkeit der Amalia liegt nicht in ihrer zerbrechlichen Schönheit. Die fehlende Männlichkeit von Karl ist trotzdem im Inneren maskulin zerstörerisch, dabei wird die Furie zur Gejagten der Moral. Das Schlussbild als »letztes Abendmahl« gibt einen seltsamen Impuls, ins Höhere, ins Ewige weisend. Der Kreislauf der Moralsuche. Mit dieser Aussage sind diese jungen Wilden klassischer als sie vielleicht selbst denken. Bravo!

D. M.

Nächste Aufführungen: 6., 28. Oktober, 4. November und 3. Dezember 2016 auf der Großen Bühne des Schauspiel Leipzig

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im Juli/August 2016