»Glasnost« und das lange Sterben der Sowjetunion

Von Erhard Hexelschneider

Der bedeutungsschwer erscheinende Titel zielt schon auf Künftiges und wird sich einordnen in die in den nächsten Monaten zu erwartende Fülle politologischer Untersuchungen, die sich mit Aufstieg, Existenz und Untergang der Sowjetunion beschäftigen. Der 2017 bevorstehende hundertste Jahrestag der Oktoberrevolution wird diesen Trend eher noch befördern.

Angesichts der erneut wachsenden Bedeutung Russlands in der Weltpolitik wird sicherlich auch »Kremlastrologen« aller Couleur die Gelegenheit bieten, ihre Sicht auf Russland und seine Herrscher als einzig wahre Sicht der »Russlandkenner« mitzuteilen. Reinhard Lauterbach, Jahrgang 1955, Slawist und freischaffender Journalist für Russland und Osteuropa (»junge Welt«), geht einen anderen Weg. Er beschränkt sich auf die Regierungszeit Michail Gorbatschows in einem fakten- und datenreichen sowie historisch sorgfältig begrenzten Rahmen.

Lauterbachs sparsam formuliertes, überaus fundiertes und durch neue Materialien in sieben Abschnitten gegliedertes Buch ist historisch-chronologisch orientiert. Um nur einige Gliederungspunkte hervorzuheben: Die Vorgeschichte der Perestroika und der Aufstieg Michail Gorbatschows zum russischen Präsidenten. In diesem Zusammenhang behandelt der Verfasser das ideologische Leben in der Endphase der Sowjetunion und die Zeit damals dominierenden Kampfbegriffe »Perestroika« und »Glasnost«; eine gründlichere Auseinandersetzung mit Boris Jelzin fehlt allerdings. Eines der wichtigsten Kapitel mit dem beziehungsreichen Titel »Pandoras Büchsenöffner« ist der gescheiterten sowjetischen Nationalitätenpolitik gewidmet. Schließlich wird das Buch mit der Frage abgerundet »Ist durch das Ende der Sowjetunion der Sozialismus gegenstandslos geworden?«, eine Frage, auf die auch Lauterbach letztlich keine schlüssige Antwort geben kann. Dennoch bleibt ein unerhört anregendes und streitbares Werk.

Reinhard Lauterbach: Das lange Sterben der Sowjetunion. Schicksalsjahre 1985 – 1999. edition berolina. Berlin 2016 by BEBUG mbH. ISBN 978-3-95841-031-2. 223 Seiten, 14,99 Euro.

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im Oktober 2016