Mitten im Krieg in der Schweiz

Von Werner Wolf

Für die Politiker war die erste Konzertreise des Gewandhausorchesters in die Schweiz im November 1916 mitten im Ersten Weltkrieg nach der massenmörderischen Schlacht bei Verdun eine Sache der Propaganda, für die Stadtväter eine Botschaft der Leipziger Musikkultur, für die Musiker aber bei allen Anstrengungen eine Reise in eine heile Welt. Gewandhauskapellmeister Arthur Nikisch war es sogar gelungen, für die 14 zum Kriegsdienst eingezogene Musiker Urlaub zu erwirken, um die Vorkriegsstärke des Orchesters zu haben. Der damalige, von Arthur Nikisch hochgeschätzte, 1964 im 100. Lebensjahr gestorbene Solooboist Alfred Gleißberg schwärmte noch an seinem 95. Geburtstag in einer Runde alter Musikerkollegen, an der ich als Berichterstatter teilnehmen konnte, welch einzigartiges Ereignis diese Reise in das friedliche Land für die Musiker war.

Nun war das Programm des Konzertes vom 23. November 1916 in St. Gallen mit Beethovens »Sinfonia eroica«, der Tondichtung »Tod und Verklärung« von Richard Strauss, dem »Waldweben« aus »Siegfried« und der Ouvertüre zu »Tannhäuser« von Richard Wagner im Gewandhaus unter Leitung Herbert Blomstedts zu erleben. Welche Empfindungen und Gedanken mögen der Trauermarsch aus der »Eroica«, »Tod und Verklärung«, das friedvolle »Waldweben« und die schroffe Gegensätze überwindende »Tannhäuser«-Ouvertüre 1916 erweckt haben?

Der schon beim Erscheinen stürmisch begrüßte Gewandhaus-Ehrendirigent ließ den Reichtum und die Gegensätze dieser Werke zu einem tief bewegenden Ereignis werden. Die spannungsgeladene Gestaltung des Trauermarsches der "Eroica" ließ den Atem stocken. Doch mit der vitalen Wiedergabe der an Gegensätzen reiche Ecksätze und des freudvollen Scherzos, beschwor er Beethovens Zukunftshoffnungen.

Die ebenfalls stark beeindruckende Ausformung der Strauss'schen Tondichtung ließ deutlich werden, dass ihr musikalischer Gehalt weit mehr ausdrückt als das ihr beigefügte Programm. Mit dem »Waldweben« beschwor Blomstedt die starke Empfindsamkeit des in der Oper oft ungestüm agierenden Wagnerschen Siegfried. Versöhnlich stimmte der strahlende Ausklang der konfliktgeladenen »Tannhäuser«-Ouvertüre. Ein großer, unvergesslicher Abend.

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im Dezember 2016