Der Kurator und der Maler: Frédéric Bußmann und Sighard Gille vor dem in der DDR umstrittenen Gemälde »Brigadefeier-Gerüstbauer« (1975–77)

 

Der letzte Titan

Von Daniel Merbitz

Längst überfällig ist die Würdigung des großen Leipziger Malers Sighard Gille im Museum der bildenden Künste. Jetzt ist es endlich soweit: Die erste Retrospektive des malerischen Werkes wird opulent zelebriert. Nach Bernhard Heisig (2005), Wolfgang Mattheuer (2007) und Werner Tübke (2009) wird der Leipziger Schule die Anerkennung gegeben, die sie verdient. Während das Dreigestirn nicht mehr unter uns weilt, ist Sighard Gille der letzte lebende Titan der Granden der Leipziger Schule – ohne Arno Rink und Co. zu nahe zu treten.

Hat Sighard Gille doch für ernste Debatten gesorgt mit seinen Brigadebildern, die in den Lehrbüchern beinahe ikonographischen Rang bekommen haben: »Brigade Heinrich Rau« (1971) und »Brigadefeier-Gerüstbauer« (1975–77). Auch der satirische Seitenhieb auf kleinbürgerliche Verhaltensweisen ist ihm nicht fremd: Man denke an seine »Autofahrer« (1972).

Das über 720 qm große Gewandhausgemälde »Gesang vom Leben« (1980/81), fast jedem Touristen geläufig, ist nicht nur für Einheimische ein leuchtender Ruhepol im nächtlichen Leipzig beim Warten auf Straßenbahn oder sich verspätender Verabredung, sondern ein Meisterwerk der letzten DDR-Dekade, mit all ihren Brüchen, all ihrer Sehnsucht ins Private hinein. Das Liebespaar, das Zentrum der Welt, ist schon eine Etappe nach dem positiven Helden des sozialistischen Realismus. Während Jahre zuvor im Palast der Republik noch staatstragender gestaltet wurde, zeigt Leipzigs Kunst im Gewandhaus in eine andere Dimension, in andere Wirklichkeiten hinaus.

Nicht nur anekdotisch ist, dass sich ein im Westen sozialisierter und der jüngeren Generation angehöriger Kurator intensiv einem DDR-Künstler widmet und dieses Terrain unbefangen erkundet. Frédéric Bußmann hat einen vorurteilsfreien Blick, der noch manchen »Altkuratoren« versagt war, die sich in Kulturkämpfe und Bilderstreite nach der Wende verstrickt hatten: u.a. in Weimar, Nürnberg und auch in Leipzig (»Lust und Last«).

Die Retrospektive zeigt über 80 Gemälde aller Schaffensperioden. Von 1962 bis 2015 reicht der Blick, grob chronologisch geordnet, und man erkennt den Weg vom Verismus eines Otto Dix über das »Skandalbild« mit dem Titel »Brigadefeier-Gerüstbauer« bis hin zu den späten, expressiven Landschaftsbildern. Leihgaben aus Berlin, Erfurt, Dresden und sogar aus Kapstadt zeigen nicht nur die gute Vernetzung des Museums, sondern auch die Streuung der Kunst.

Im Eingangsbereich des Museums erwartet die Besucher eine Skulptur aus Aluminium: »Don Roland« (2016), deren Zusammenschrauberei mit einem befreundeten Diplomingenieur erfolgte. Eine ebenso gewagte Konstruktion ist die Aufhängung des 1:6 Modells des Gewandhausbildes »Gesang vom Leben«. Mit dieser Arbeit war Sighard Gille auf der Biennale 1982 in Venedig vertreten, dem ersten DDR-Auftritt in der Lagunenstadt.

Nach dem Zusammenbruch des ihn umrandenden Gesellschaftssystems zeigt sich ein Motivwandel, der zwar symptomatisch für viele Künstler und auch Schriftsteller der DDR war, dennoch gibt es bereits im Ausgang der 1970er Jahre eine Anlage des Privaten oder, besser formuliert, der Nischensuche, die bis in die 1990er Jahre heranreift, katalysiert durch die Wendeumbrüche, aber eben nur beschleunigt und nicht erst dadurch konstituiert. Nur oberflächliche Betrachter gehen über diesen Zusammenhang, über diese frühen Ausprägungen der Nischensuche hinweg. Diesen Gedanken erweiternd, kann auch keine Entpolitisierung des Schaffens festgestellt werden, wenn man, erstens, das Private als politisch begreift und, zweitens, sich das Gemälde mit den Soldaten im Irak auf der »Hollywoodschaukel« (2008–09) anschaut, und drittens immer beiden Strängen im Künstlerleben Bedeutung beimisst. Man sehe sich das »Familienbild« (1970) und »Sambucus, Weißer Holunder« (2006) auf der einen und »Wessen Morgen ist der Morgen« (1974) und »Free Pigs« (2010) auf der anderen Seite an.

Der elegante Katalog (39,– Euro) ist nicht nur eine veritable Bebilderung der Ausstellung, sondern ein exzellentes Werkverzeichnis, welches die Mühen, die sich Ina Gille, Frau und Sachwalterin des Künstlers, unterzogen hat, nur erahnen lässt. »3200 Gramm konzentrierter Gille«, stellte der Künstler bei der Vernissage als Statement in den Raum. Agil und fit mit seinen 75 Jahren strahlt er Lebens- und Malfreude aus, Sequenzen angenehmer Unterhaltung sendend.

Mehr als eine Randnotiz ist die Uraufführung eines musikalischen Werkes von Steffen Schleiermacher, der sich von den Gemälden inspirieren ließ: »Gesang. Modellhaft für Sighard Gille«. Neun Minuten vertonter Gille – eine kleine Sensation!

»Sighard Gille – ruhelos«, Museum der bildenden Künste Leipzig, Katharinenstr. 10: Di. u. Do.–So. 10-18 Uhr, Mi. 12–20 Uhr, Feiertage 10–18 Uhr, 24. und 31. Dezember geschlossen, am zweiten Mittwoch im Monat freier Eintritt

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im Dezember 2016