Eine Brücke zwischen Stalin und Churchill

Von E. Hexelschneider

Den Namen von Iwan Maiski habe ich wohl zum ersten Mal als junger Slawistik-Student an der Leningrader Universität während eines Zusatzstudiums 1957/1958 gehört. Es war die aufregende Zeit nach dem XX. Parteitag der KPdSU, als jeder Tag neue Enthüllungen über nie geahnte Verbrechen der Stalin-Zeit brachte und unsere Gemüter in Aufwallung versetzte. In dieser Zeit erschienen auch nicht wenige Materialien über den Zweiten Weltkrieg, teils Memoiren sowjetischer Militärs, teils russische Übersetzungen von Werken ausländischer Militärhistoriker. Sensationell war die Veröffentlichung des mehrbändigen Briefwechsels zwischen »den großen Drei« während des Zweiten Weltkrieges: Josef Stalin, Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt, aus dem man nicht wenig Neues über die Hintergründe des Krieges und die Diplomatie der kriegführenden Mächte erfahren kann. Nicht zufällig war diese Ausgabe auch schnell vergriffen. Und wer sich nicht speziell mit Militärgeschichte befasst hat, wird wohl auch kaum den Namen des vielleicht wichtigsten sowjetischen Diplomaten dieser Zeit im Gedächtnis behalten haben: Iwan Michailowitsch Maiski (1884–1975).

Minutiös wird seine Diplomatenkarriere verfolgt Aber was macht seine Bedeutung aus? Warum werden seine Werke vielbändig gedruckt? Immerhin war Maiski von 1932 bis 1943 sowjetischer Botschafter in London und schrieb über all diese Jahre seine Memoiren und seine Tagebücher, die heute als unschätzbare Quellen über die Diplomatie im Zweiten Weltkrieg gelten. Deshalb wurde seine Leistung von Zeitgenossen sehr hoch eingeschätzt, zumal Maiski Zugang zu den höchsten britischen und sowjetischen Kreisen besaß. Sein Einfluss war oft strategiebildend, seine Prognosen zuverlässig; er galt als Mittler zwischen Marschall Stalin und dem damaligen Premierminister Churchill. Alle diese Papiere hatten höchsten Geheimniswert und vermittelte seinen Lesern auch heute noch wertvolle Erkenntnisse.

Nicht zufällig waren die Tagebücher lange Zeit verschollen. Erst dem israelischen Historiker Gabriel Gorodetsky gelang es, im Archiv des russischen Außenministeriums im Rahmen eines gemeinsamen israelisch-sowjetischen Forschungsprojekts die voluminösen Tagebuchbände zu Tage zu fördern. Fast 900 Seiten in Kleindruck sind vom wissbegierigen und lesewilligen Leser zu bewältigen. Wenn er durchhält, wird er mit einer Fülle von Informationen zur Außenpolitik und Diplomatie, aber auch mit vielen Interna aus der Waschküche der politischen und militärischen Allianz belohnt. Gleichzeitig bietet das Leben dieses pflichtbewussten Beamten auch einen Überblick über seine erzwungene Abberufung durch die Sowjetmacht, seine Inhaftierung wegen falscher Anschuldigungen und dann die Tätigkeit auf subalternen Positionen.

Gorodetskys englischer Text wird hier in einer leicht veränderten Fassung in Deutsch vorgelegt (25 Prozent der insgesamt 1800 Seiten des gesamten Manuskripts); hinzu kommt der deutschsprachige Apparat. Vollständig wird die englische Gesamtausgabe drei Bände umfassen. Abschießend: Lesen lohnt sich, aber man braucht viel Zeit.

Die Maiski-Tagebücher. Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler 1932-1943. Hsg.von Gabriel Gorodetsky. C. H. Beck München 2016. 896 Seiten. ISBN 978-3-406-68936-9. 34,95 EURO

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im Dezember 2016