Die Maßnahme

Bertolt Brecht: »Die Maßnahme«

Die Perser

Aischylos: »Die Perser« Fotos: Bettina Stöß/Schauspiel Leipzig

Gesamtkunstwerk im Schauspiel

Von Daniel Merbitz

Ein Hauch Berliner Ensemble weht in Leipzig: Brecht und Antike vom Feinsten. Intendant Enrico Lübbe addiert »Die Maßnahme« von Bertolt Brecht und »Die Perser« von Aischylos zu einem zweistündigen Theaterabend. Es gibt leichtere Stücke, die man kombinieren kann. Doch darum geht es dem Regieteam um Enrico Lübbe nicht, sondern um das Schwere, welches nicht leicht zu machen ist. Brechts Lehrstück »Die Maßnahme«, uraufgeführt 1930 in Berlin mit Helene Weigel und Ernst Busch, handelt von einem Agitatoreneinsatz in China, der in der Tötung eines Abtrünnigen endet, weil er die gemeinsame Sache gefährdet.

In der Tradition des Agitproptheaters verhandelt Brecht das Spannungsverhältnis zwischen Kollektiv und Einzelnem. Trotz des Aufführungsverbotes durch Brecht – er meinte 1956, dass das Stück nicht für Zuschauer geschrieben wurde, sondern für die Belehrung der Aufführenden – gab es weiterhin Drucklegungen in Ost und West, zum Beispiel auch im Reclam Verlag im Jahre 1978. Deuter aller Couleur versuchten sich an diesem Lehrstück. Von »Stalinismus« bis »Leere« wird dem Text alles bescheinigt, doch eines dabei oft verkannt: Der Umgang mit dem zweifelnden Agitator ist ein sensibles mechanisches Gerüst, auf dem die Ausbeutermethoden aufgespannt werden: Der Preis des Reises, die Gewalt gegen Streikende, das Elend der Armen. Enrico Lübbe greift hinein in den Brecht'schen Kosmos, erkundet die weite Welt des didaktischen Lehrtheaters. Die vier maskenbewehrten Agitatoren in rot-blauen Anzügen werden streng geführt. Ihre Gesten sind die eines Mattheuer'schen Jahrhundertschrittes.

Aus dieser Gleichförmigkeit heraus erwächst der Zweifel: Anna Keil begeistert als empathisch Hinterfragende, als Agitatorin, die auf dem schmalen Grat zwischen Menschlichkeit und Aktionsgefährdung schlafwandelt. In die Isolation und Entfremdung legt Anna Keil ihre große Fähigkeit, Gedankengänge und Gefühle nach außen zu transformieren, ohne jedoch plakativ zu wirken.

Das exzellente Bühnenbild von Etienne Pluss ist keine die Regieintention nur illustrierende Angelegenheit, sondern wohltuend ein immanenter Bestandteil der Dramaturgie: Schauspieler werden zu Schattenrissen und erstürmen die große Mauer, die an die Tetris-Computerspielästhetik erinnert und damit das Modellhafte des Lehrstückes hervorhebt, mithin die spielerische Versuchsanordnung betont. Verwoben mit Videoprojektionen des Kollektivs fettFilm wird der zweiten Dimension eine dritte hinzugefügt: Das Bühnenbild erhebt sich dadurch zu einer riesigen, modernen Skulptur oder zu einer Art Meta-Architektur.

Dazu die berauschende Musik von Hanns Eisler, die zwischen Wagner und Goldene Zwanziger changiert, dargeboten vom Leipziger Gewandhaus sowie ein wuchtiger und präzise eingestellter Chor (Einstudierung: Marcus Crome), der vom Rang herab kommentiert und wertet. Das Kollektiv als Kontrollorgan!

Dann stürzt die Mauer wie ein Koloss herab und signalisiert, nebelrauschend, die Reise in die Antike. Schwankende Gestalten ferner Tage scheinen auf.

Intendant und Regisseur Enrico Lübbe hat die Kombination aus Politphilosophie und Antike schon 2015 erfolgreich auf die Bretter des Leipziger Schauspielhauses gebracht, indem er »Die Schutzbefohlenen« von Elfriede Jelinek mit »Die Schutzflehenden« von Aischylos verschränkt hat. Seine aktuelle Tiefenbohrung in die Weltgeschichte hinein, in die Literatur und Dramatik, hat »Die Perser« von Aischylos zum Ziel. Das älteste vollständig erhaltende Drama, uraufgeführt 472 v.u.Z., noch verhaftet den dionysischen Festen, gleichwohl wegweisend in Dramaturgie und Schauspielereinsatz, wird ernst genommen: Regisseur Enrico Lübbe geht an den Kern der Seelen der Besiegten als Mahnung an die Sieger. Lobenswert ist auch das Urvertrauen in den Text (Deutsch von Durs Grünbein). Hier wird nichts zwangsaktualisiert oder gegen den Strich gebürstet, kein anderer Unsinn verzapft. Hier siegt der Zauber der Worte: Aus den Tiefen der Menschheit dringen sie an die Oberfläche hervor. Der Chor des persischen Ältestenrates sprudelt Wut und Trauer. Beeindruckend wie Hannelore Schubert als Chorführerin die Stimme erhebt, sich steigert in Kraft und Würde, um die Wut in Worte zu packen. In Höchstform: Felix Axel Preißler als Bote und Xerxes.

Das reduzierte, ocker-graue Bühnenbild (Etienne Pluss) lässt die marmornen Tempel erahnen. Die Kostüme (Bianca Deigner) bleiben glücklicherweise der antiken Welt verhaftet, keine Anzug und Krawatte tragende Perser. Danke!

Fazit: Selbstbewusst und stark wird Moderne mit Tradition verbunden. Die Summe beider Teile des Abends ergeben dank der Kraft der Worte, des Spiels, der Musik, der Skulptur, der bewegten Bilder, der Architektur und der Rauminstallation eine Symbiose der Künste.

Kurz gesagt: Ein Gesamtkunstwerk!

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im April 2017