Russische Sozialutopien

Von Erhard Hexelschneider

Vielleicht werden sich nicht wenige Leser noch mit Vergnügen an die im Frühjahr 2017 von den Chemnitzer Kunstsammlungen veranstaltete Gemäldeausstellung »Revolutionär!« erinnern. Zu besichtigen war die immense Summe von 400 Werken, geschaffen von 110 Künstlern und im Ausland bisher nie gezeigter Werke der russischem Avantgarde aus der Pariser Sammlung des russischen Emigranten Vladimir Tsarenkov, die nach den Peredwischniki des 19. Jahrhunderts, den sogenannten Wandermalern, für das heutige deutsche Publikum ein überregionales Interesse beanspruchen konnten. Nimmt man das hier anzuzeigende fundamentale Werk (über 760 Seiten!) des Berliner Sozial- und Literaturwissenschaftlers Thomas Möbius hinzu, gewinnt man einen umfassenden Überblick zum Thema »Russland und die Sozialutopien«. Erfasst wird dabei der Zeitraum vom beginnenden 18. Jahrhundert bis etwa zur Herrschaft Stalins um 1932.

Als Ausgangsthese stellt Möbius die Frage in den Raum, was eigentlich Russland über die Jahrhunderte hinweg für den westlichen Intellektuellen zur »Heimstatt des Weltgeistes der Utopie« gemacht hat. Für ihn korrespondiert das mit der inneren »Utopisierung des politischen Denkens« in Russland. Der Verfasser gliedert danach seine aus einer Dissertation hervorgegangene Arbeit in fünf umfangreiche Kapitel sowie einen längeren abschließenden Teil »Russland 1917 – Utopien einer sozialistischen Lebensweise zwischen Politik, Alltag und Kunst.« Die einzelnen Kapitel, soweit sie sich in unserem Resümee im Einzelnen auf Russland und die sich darum rankenden Problemkreise beziehen, lauten folgendermaßen, wobei sie sowohl nach historisch-theoretischen Gesichtspunkten als auch nach einzelnen Persönlichkeiten und ihrem Denkgerüst gegliedert werden:

1) Als Utopie und Aufklärung, Begründung und Konsolidierung des utopischen Denkens in Russland. Hier (und in den folgenden Abschnitten) wird die Darstellungsweise von Möbius erkennbar, der neben allgemeine theoretische Überlegungen einige bekannte, aber in Deutschland auch weniger bekannte Namen mit ihren Auffassungen setzt (wie Michail Schtscherbatow, Alexander Radischtschew, Wladimir Odojewskij und andere russische Größen des 18. Jahrhunderts). Das 2. Kapitel (»Utopie als Moderne und Gegenmoderne«) behandelt nach dem Dekrabristenaufstand das utopische Denken zwischen Westlertum und Slawophilie als einer der Kernfragen im russischen 19. Jahrhundert. Hier spielen naturgemäß Nikolaj Tschernyschewski und Fjodor Dostojewski eine besondere Rolle. Das folgende Kapitel analysiert die »Utopie im Zeichen der Revolution« und lenkt den Blick von Außen auf das revolutionäre Russland, was die Suche nach neuen Wegen und neuen gesellschaftlichen Aufbrüchen einbezieht. Das bolschewistische Russland birgt in den 1920er bis 1930er Jahren große Möglichkeiten für den sogenannten »Utopietourimus« mit seinen zumeist oberflächlichen Sichtweisen. Die Reisenden »von Außen« besitzen über die tatsächlich bestehenden Zustände in Sowjetrussland zumeist nur idealisierte Vorstellungen. Der Blick auf neue Lebensweisen gilt als Ausdruck neuer Utopien; die Experimente der Gemeinschaft und der Kommunen nach 1917 werden als Sonderform des gesellschaftlichen Zusammenlebens untersucht. Schließlich behandelt der Verfasser die nachrevolutionären »Architekturvisionen«, worunter er neuartige neue Häuser und Städte für den »Neuen Menschen« versteht.

Wir haben es mit einer kenntnisreichen Arbeit über ein wenig erforschtes Gebiet zu tun. Der Autor kennt sich in der älteren und neuesten internationalen Literatur vorzüglich aus, spart aber auch die »weißen Flecken« der Forschung nicht aus. Es ist ein Buch, dessen Inhalt seinen Leser nicht enttäuschen wird, so er nur Zeit und Sorgfalt beim Lesen mitbringt.

Thomas Möbius: Russische Sozialutopien von Peter I. bis Stalin. Historische Konstellationen und Bezüge. Lit Verlag Dr. W. Hopf. Berlin 2015. 760 Seiten, br., 79.90 Euro. Mit einem Vorwort von Richard Saage (= Politica et ars. Bd. 25).

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im Mai 2017