Kasimir und Karoline im Schaupsiel Leipzig

Foto: Rolf Arnold / Schauspiel Leipzig

O’zapft is!

Von Daniel Merbitz

Nur wenige Stunden nach dem Bierfassanstich auf der Münchner Wiesn startet das Schauspiel Leipzig mit einem auf dem Oktoberfest verorteten Stück in die neue Spielzeit: »Kasimir und Karoline«. Ödön von Horvath (1901–1938) hat die Gesellschaft der Endzeit der Weimarer Republik gut analysiert: Massenarbeitslosigkeit, Desillusionierung, Vergnügungssucht und eine ihre gesellschaftliche Stellung ausnutzende Schicht der Herrschenden.

Zuletzt hatte dieses an die Volksstücktradition anknüpfende süß-saure Gesellschaftsdrama seine Premiere im Leipziger Schauspielhaus im Jahre 1999: plüschig und abgründig inszeniert von Michael Thalheimer und mit einer exzellenten Isabel Schosnig und einem Maßstäbe setzenden Christoph Hohmann in den Hauptrollen.

Regisseur und Intendant Enrico Lübbe setzt im Jahr 2017 – 85 Jahre nach der Uraufführung in Leipzig – auf Kantine statt Karussell. Keine Tänze, keine fröhliche Musik, kein Festtreiben illustrieren die seelischen Abgründe der Protagonisten. Vielmehr verdichtet Enrico Lübbe kammerspielartig die Konflikte, entzerrt die Räume. An der trüben Wand schreit das Menetekel »Morgen werden wir alle fliegen«, damit ist nicht allein die Zeppelin-Euphorie gemeint, als Chiffre für den Technikglauben, sondern wohl eher die Arbeitsmarktrealitäten im heutigen Millionenbereich.

Der frisch arbeitslose Kasimir und die melancholisch-romantische Karoline treiben beziehungstechnisch in die Katastrophe, eingerahmt von einem 1920er Jahre Interieur mit grün-kalkweißen Wänden, Barhockern und Sesseln im Bauhausfunktionalismus, einem Boxautomaten als Reminiszenz an das Oktoberfest, dazu ratternde U-Bahnen durch Licht und Donner angedeutet.

Der Abend ist gelungen und zugleich ambivalent, einerseits überzeugt die Idee, Volksstück und Kolorit abzustreifen und den Trubel zu verbannen, um die Handlung zu einem Kammerspiel zu destillieren, andererseits sind einige Szenen zu zäh und die Hauptrollen müssen aufpassen, dass sie nicht von den Nebenrollen an die Wand gespielt werden, wie zum Beispiel durch Kommerzienrat Rauch, gespielt von Roman Kaminski, einer Schauspiellegende mit Stationen vom Deutschen Theater, über die Wiener Burg bis zum Berliner Ensemble. Ein fellineskes Skurrilitätenkabinett gibt Ahnung vom Wiesn-Treiben, steht jedoch mehr für das böse Zurschaustellen von Schwachen. Ohne soziale Medien zu buchstabieren, ist die Botschaft wohl zu hören.

Kasimirs Frage »Bist du eine wertvolle Frau?« ist das treibende Element, die Herausforderung für Karolines Gefühlshaushalt. Sie kann das Private vom Dienst trennen, Kasimir, der Entrechtete kann es nicht, zu tief sitzt das Erfahrene, der Verlust des Arbeitsplatzes.

Daniela Keckeis überzeugt als Karoline: Sie ist der eisschleckende Ruhepol, die sich den Provokationen durch Kasimir kaum erwehrt und nur langsam in die Arme eines anderen Mannes gleitet. Wenzel Banneyer ist der haargelharte Stänkerer, der sozial Ausgegrenzte, der überall gleich vorab bezahlen muss, bis das Geld alle ist. Stark: Andreas Keller als Landgerichtsdirektor Speer, Michael Pempelforth als Schürzinger und Felix Axel Preißler als Merkl Franz. Roman Kaminski sowieso.

Das Glasharfenspiel (Philipp Marguerre) statt Tanzmusik passt in das Inszenierungskonzept, psychedelisch aufgeladen, unterstreicht es den düsteren Charakter des Sozialdramas, welches als Beziehungspsychogramm eingekleidet ist.

Fazit: Enrico Lübbe beweist meisterhaft, dass ein guter Theaterabend ohne Nebelorgien, Blendlicht, Schrottvideos, Technobeats und Theaterblutströme funktioniert. Ein wahres Saisoneröffnungsfest: O'zapft is!

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im Oktober 2017