Die Faustinszenierung des Jahres 2018

Foto: Rolf Arnold/Schauspiel Leipzig

Dekonstruktion

Von Daniel Merbitz

Enrico Lübbe als Regisseur und Torsten Buß als Dramaturg sind bisher bei ihren Inszenierungen in Leipzig nie als Stückezertrümmerer aufgefallen. Diesen Part hatte Sebastian Hartmann als Amtsvorgänger von Enrico Lübbe zum Leidwesen des Stadttheaterpublikums inne. Jetzt hat sich das Leipziger Duo, manche sagen, es sei das neue Kollektiv Peymann und Beil, konzeptionell und inszenatorisch verrannt. Und dies nicht bei einem zeitgenössischen Stück, wo meistens die Textqualität schon hanebüchen ist, wie zuletzt bei »Lebendfallen« (Regie: Thirza Bruncken) von Enis Maci, nein, jetzt wurde die Axt an die beiden Teile von Goethes »Faust« gelegt.

Dabei wurde es höchste Zeit, die beiden Teile des wichtigsten deutschsprachigen Bühnenwerkes wieder zu zeigen, denn deren letzte gefeierte und Maßstäbe setzende Premiere fand unter der Regie von Wolfgang Engel im September 1999 auf der Großen Bühne, im Foyer und auf dem Johannisfriedhof in Leipzig statt. Sebastian Hartmann hat mit »Mein Faust« in der Spielzeit 2012/13 am Centraltheater, wie das Schauspielhaus unter seiner Ägide (der Begriff Ära wäre zu viel der Ehre), hieß, sein Unvermögen wiederholt bewiesen, mit Klassikern zu arbeiten.

Nun also die Lesart des Jahres 2018: Ein Inszenierungsgebäude, welches auf eine Hauptsäule, nämlich auf den Mephisto, komplett verzichtet, kann nur zusammen stürzen. Und es ist natürlich krachend zusammengefallen. In den Trümmern begibt sich das Publikum mühsam nach Sinnsuche.

Was soll das Geniale daran sein, einen Faust in bis zu fünffacher Ausführung auf die Bühne zu stellen und den Gegenpart, den Teufel, wegzulassen? Diese Dekonstruktion ist schlicht ein Irrweg. Nervend: Ein Osterspaziergang der in Einzelworte seziert und gestottert wird, endlose Schlaufen, Faust am Rande einer Schulklasse sitzend, beide Hände auf die Oberschenkel, eingerahmt von der Kakophonie des Chores, eine ebenso ermüdende Wortfetzenorgie bei der Famulus-Szene, unmotivierte Rollen- und Textwechsel, der Chor als Riverdance-Verschnitt, ein mißglücktes Satyrspiel mit der Göchhausen, dem Eckermann und dem Dichterfürsten, pseudomoderne Geschlechterrollenwechsel. Gelungen: die von Schauspielern geführten Handpuppen. Dann wird Sekt für das Publikum gereicht …

Witzig das Einspielfilmchen: Goethe in der Nationalbibliothek, in den endlosen Regalgängen zur Sekundärliteratur. Gründlich wurde schon gearbeitet: Goethe-Liebhaber erkennen in der Walpurgisszene die derben und von Goethe nicht verwendeten Texte der Paralipomena wieder. Hübsch auch die Bühne, wenn von oben ein Erdgeist-Farbenspiel erscheint in Computerspielästhetik der 1980er Jahre. Ansonsten ist auch die Lichtregie ein Problem, schlechte Sichtverhältnisse, besonders nach der Pause beim Bühnenteil eines sehr eingedampften »Faust II«. Da helfen auch die drei Thementouren nicht wirklich weiter, wobei der akustische Stadtrundgang (»Die Erfindung des Reichtums«) zum Alten Rathaus und dem dortigen Aktionärsgewusel durchaus unterhaltsam und das staatstragende »Expertengespräch« zwischen dem Oberbürgermeister und einem Wirtschaftshistoriker peinlich bis zum Fremdschämen war.

Enrico Lübbe und Torsten Buß, zu Wolfgang Engels Zeiten bereits am Schauspiel Leipzig, ehe sie in andere Theaterwelten aufgebrochen sind, um wieder in die Messestadt zurückzukehren, kennen die starke Inszenierung des damaligen Intendanten sehr gut. Wollten sie sich von dem großen Lehrmeister eines aufgeklärten Stadttheaters absetzen? Alles anders machen als nach der Engelschen Erfolgsformel aus Werktreue, Opulenz, Glamour, Verbitterung, Entmutigung, Humor, Tragödie und Satyrspiel? So wie Wolfgang Engel in seinem Dresdner »Faust I und II« 1990 noch mit Faust-Mephisto-Rollenwechsel und Gretchen im Plattenbau experimentierte, ehe in den folgenden neun Jahren eine Reifung des Konzepts erfolgte bis zur legendären Leipziger Premiere 1999 (damals dabei: Matthias Hummitzsch, Johann von Bülow, Peter Kurth und Lisa Martinek), so hat auch das Duo Lübbe/Buß ein Recht auf Experiment und Emanzipation von großen Lehrmeistern.

Für heute gilt allerdings vorerst: Diese »Faust I und II« – Inszenierung hat sich von Werktreue, Verständlichkeit, Ernst und Witz weitgehend verabschiedet. Oder positiv formuliert: Dieser »Faust« entzieht sich den gängigen Zuschreibungen als Faust-, Mephisto- oder Gretchenstück. Aber vielleicht ist es auch der Zeitgeist in smartphonegepeitschter Aufgeregtheit dieser Welt, die Stückelung der Aufmerksamkeit, die nachlassende Fähigkeit des zusammenhängenden Sehens, den Faust-Stoff so zu reflektieren? Von dem deutlich unter Niveau spielenden Ensemble (Ausnahme: Denis Petkovic) mal ganz abgesehen.

Nur »Faust I« wird in der kalten Jahreszeit gespielt. Termine: 1. und 21. Dezember 2018, weitere Termine in 2019 auf www.schauspiel-leipzig.de
»Faust I und II« (mit Touren etc.) wird wieder ab Mai 2019 an folgenden Terminen zu sehen sein: 11. und 12. Mai, 1. Juni 2019.
Achtung: Für alle Termine läuft der Vorverkauf bereits!

Mehr Fotos von der Leipziger Faust-Inszenierung.

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im November 2018