Zeichnugnen Frauenberufe

Quelle: Archiv Fiebelkorn

Wie reizend

Von Cornelius Luckner

Erstaunlich umfangreiche Erinnerungen gab es in den vergangenen Wochen an die Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschland vor einhundert Jahren. Ein Megathema hatte plötzlich Konjunktur. Alle, die sich hierzulande als Leitmedium verstehen, berichteten darüber, ließen Marie Juchacz, die erste Frau, die im Februar 1919 im Reichstag sprach, zu Wort kommen oder Claire Waldoff mit ihrem berühmten Gassenhauer, der die Überheblichkeit der meisten männlichen Abgeordneten aufspießte, den Anbruch einer neuen politischen Zeit sarkastisch ausmalen. Faire Autoren der vielen Reminiszenzen vergaßen den Hinweis nicht, dass es sich beim deutschen Frauenwahlrecht um eine der grandiosen Errungenschaften der Novemberrevolution handelt.

Im Zuge der historischen Gedankenflüge fand der Aufbruch in emanzipiertere Verhältnisse leitmedial anschließend dann meist seine Abrundung in Gestalt der späten Umsetzung kompletter Frauenrechte in der alten Bundesrepublik. Wie reizend. Denn spätestens an dieser Stelle beginnt der geneigte Medienkonsument im Osten zu stutzen. Politisch Interessierte erinnern sich gut, dass die Ehefrau (West) ihren Ehemann (West) bis zum Ende der 1960er und teilweise sogar bis in die frühen 1970er Jahre um Erlaubnis bitten musste, wenn sie arbeiten gehen, einen höheren Bildungsweg einschlagen oder einen Kreditvertrag abschließen wollte. Reagierte der Göttergatte bockig, blieb sein Weib noch lange an Heim und Herd gefesselt. Ein stockkonservatives Rollenspiel. Allseits emanzipierte DDR-Frauen konnten schon damals über die archaischen bundesrepublikanischen Geschlechterverhältnisse und die reichlich spät vorgenommenen Korrekturen nur den Kopf schütteln. Ganz zu schweigen vom liberalen Abtreibungsrecht der DDR, an dem sich im Einheitssommer 1990 der politische Streit um die konkrete Ausgestaltung des Zusammengehens von Ost und West fast bis zum kompletten Stillstand aufrieb. So richtig durch ist das lebenswichtige Thema bis heute nicht, wie die verdruckste Debatte um die Informationswege zum Schwangerschaftsabbruch jüngst zeigte.

Dabei hatten sich schon 1975 anlässlich des Welt-Frauenkongresses in der Hauptstadt der DDR Tausende weibliche Delegierte von allen Kontinenten ein Bild machen können, wie fortschrittlich, wenn auch beileibe nicht reibungslos Emanzipation im zweiten deutschen Staat funktionierte. Die Erinnerung an den 100. Jahrestag des Frauenwahlrechts hierzulande und ihre Folgen wäre es deshalb wert gewesen, differenzierter und unvoreingenommener zu beleuchten, wie die Emanzipationsgeschichte im gesamten Land über Jahrzehnte gründlich getrennte Wege ging. Stattdessen wurden jedoch wieder einmal nur die alten bundesdeutschen Themen aufgewärmt. Dass die Gleichberechtigung der Frauen im Osten mit vielen sozialen Regelungen längst gesetzlich verbriefter Alltag war, als im Westen noch der Herr allein im Hause regierte – darüber verloren die Rückblicke der Leitmedien auf die ersten weiblichen Stimmen im Reichstag und die Fortsetzung des Aufbruchs kein Wort. Das ist umso ärgerlicher, als dass beim Sezieren der 30jährigen Einheitsreibereien gerade in den letzten Wochen von vielen Großsprechern des gehobenen Polit-Talks geheuchelt wurde, bei großen Themen der Gesellschaft endlich die gesamte deutsche Entwicklung besonders in den Jahren der Teilung in den Blick zu nehmen und die völlig einseitige Fixierung auf die angestrahlte bundesrepublikanische Teilgeschichte zu überwinden. Falls die Behandlung von 100 Jahren Frauenwahlrecht und ihren vielschichtigen Folgen die Probe aufs Exempel war, wie die Entwicklung in Ost und West differenziert, aber ausgewogen und in einem umfassenden gesamtdeutschen Kontext behandelt werden kann, so ist dieser Versuch gründlich danebengegangen.

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im März 2019