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Diskursort des freien Geistes

Unkonventioneller Gesprächskreis »Jour fixe« an Leipziger Dependance der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen findet unverminderten Zulauf / Von Wulf Skaun

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen ist das Werk mehrerer Generationen. An ihrer Wiege standen zwei berühmte Leipziger Gelehrte, Walter Markov und Helmut Seidel. Gemeinsam mit ihrem damals noch jungen Historikerkollegen Volker Külow und der Dresdner Bibliothekarin Juliane Krummsdorf hatten sie im Februar 1991 die Initiative ergriffen, »eine Stiftung ins Leben zu rufen, die sich in ihrem Wirken humanistischen Ideen und Werten – einschließlich der Ideen und Werte des demokratischen Sozialismus, der Erfahrungen der Arbeiterbewegung – verpflichtet weiß«. Seither hat sie sich als der Partei DIE LINKE nahestehender Bildungsverein profiliert. Zu ihren Hauptzwecken zählt neben der Mehrung und Verbreitung gesellschaftspolitischen Wissens eine organisierte Kommunikation, die soziale Gruppen und Generationen miteinander verbindet. An thematischen Schwerpunkten Interessierte treffen sich so in Arbeitskreisen wie der Philosophischen Dienstagsgesellschaft.

Seit Januar 2015 werden übergreifende Fragen von Politik, Ökonomie, Kultur und Wissenschaft auch in einem speziellen Format debattiert. »Jour fixe«, einen unkonventionellen Gesprächskreis, nannten die Gründer Klaus Kinner und Manfred Neuhaus ihr Projekt. Die beiden Leipziger Historiker, Jahrgang 1946, haben sich über die sächsischen Landesgrenzen hinaus einen Namen gemacht: Kinner als Experte der Kommunismus- und Linkssozialismus-Geschichte, Neuhaus als langjähriger Mitarbeiter der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA).

Beide dachten anfangs an eine eher »familiäre« Zusammenkunft von Gesinnungsfreunden, insbesondere auch von früheren akademischen Weggefährten, die mit dem Austausch von Gedanken, Ideen, Standpunkten am »Puls der Zeit« bleiben und auch der sozialen Vereinsamung im Ruhestand entgehen wollten. So reichte die Bibliothek der Leipziger Dependance der RLS Sachsen in der Harkortstraße 10 völlig aus, als am 22. Januar 2015 rund 20 Teilnehmer Jour fixe aus der Taufe hoben. Den aktuellen politischen Anlässen entsprechend – national: Pegida/Legida, international: Überfall auf Charlie Hebdo – lauteten die Premierenthemen »Orient und Okzident« sowie »Die Unterwerfung«, Houellbecqs inhaltskonformes Buch.

Diese Mixtur von fachwissenschaftlicher Diskussionsgrundlage und kulturell-literarischem Pendant blieb fortan das Programmmuster von Jour fixe. Offensichtlich hatten die Gründungsväter damit den Nerv vieler Interessierter über den ursprünglich vermuteten Zirkel hinaus getroffen. Rasch wuchs und stabilisierte sich der Zulauf, auch aus nichtakademischen Kreisen. Bei etlichen Themen platzte die Bibliothek aus ihren Nähten. So bei den Debatten über Pikettys Kapitallehre, moderne Revolutionstheorien, Xenophobie und Flüchtlingsbewegung, Biedenkopfs Tagebücher, Macht der Affekte in der Politik, gesellschaftliche Transformationskonzepte der Linken, Martin Luther, Schlögels »Das sowjetische Jahrhundert«, die Neue Seidenstraße, die 68er Bewegung, 100 Jahre Novemberrevolution, den NS-Raubkunstskandal …

Mit 73 Gästen zum Treuhandthema fand der 36. Treff im August 2018 die größte Resonanz, als die sächsische Staatsministerin Petra Köpping mit Fachexperten an ihrer Seite dem ostdeutschen Treuhandtrauma zu Leibe rückte und 73 Versammelten aus dem Herzen sprach. Übrigens, mit überregionalem Medienecho. Westdeutsche Presse hatte es bereits bei Peter Brandts Auftritt im November 2017 gegeben.

Worauf beruht diese Erfolgsgeschichte von Jour fixe? Als aktiver Mitgestalter von Anfang an betrachte ich die Grundkonzeption als Türöffner für die zum Selbstläufer gewordenen Veranstaltungen: sich gemeinsam einen »Vers machen« zu wollen über aktuelle, allgemein bewegende Ereignisse in Brennpunkten der nahen und fernen Welt und ihre mediale Reflexion in Kunst und Literatur. Hintergründe, Ursachen und Folgen aus politiktheoretischer, philosophischer und geistig-kultureller Sicht zu erkennen und Konsequenzen für freiheitlich-demokratisches Denken und Handeln zu begreifen.

Solche Ansprüche zu meistern, braucht es kundige Impulsgeber. Mit ausgewiesenen Referenten, zumeist früheren Geistesschaffenden der Leipziger Universität und Berliner Kollegen der Rosa-Luxemburg-Stiftung des Bundes, konnte diese Voraussetzung erfüllt werden. Stellvertretend für alle Themenprofis seien die Philosophen Volker Caysa (†), Michael Brie, Monika Runge, die Historiker Matthias Middell, Wladislaw Hedeler, Jörn Schütrumpf, die Literaturwissenschaftler Willi Beitz, Adelheid Latchinian, Klaus Pezold, der Kunsthistoriker Thomas Topfstedt, die Musikwissenschaftler Werner Wolf, Anselm Hartinger, der Arabist und Mediävist Gerhard Hoffmann, der Wirtschaftsjournalist Helge-Heinz Heinker genannt. Ihre Diskussionsanstöße vermittelten sie keineswegs ex cathedra. Im Geiste des bekannten Diktums Rosa Luxemburgs »Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden sich zu äußern« pflegen die Teilnehmer einen parteipolitisch unabhängigen, konstruktiv-kritischen Gedankenaustausch, der einen verantwortungsbewussten und gemeinsinnigen Umgang mit neuen, auch problematischen und Widerspruch heischenden Meinungen einschließt. Diese Debattenkultur, die Rechthaberei, angemaßte Deutungshoheit oder Dogmenreiterei ausschließt, sagt vor allem den jüngeren Semestern zu, die noch in Unterzahl sind. Kinner, Neuhaus und ihre Altersgenossen freuen sich über jeden jugendlichen Neuzugang, der zur »Fahne« linksdemokratischer, humanistischer, solidarischer Gesinnung und Gesittung hält.

Inzwischen ist der Gesprächskreis in seinem fünften Jahr angelangt. Die 44. Auflage am 11. April 2019 trägt den Titel »Die kulturelle Potenz war gewaltig«. Der Berliner Historiker Gerd Dietrich präsentiert seine dreibändige Kulturgeschichte, die bisher größte zusam­menhängende Darstellung der DDR. Nach Aufgabe des Stiftungsdomizils Harkortstraße 10 erwarten die Jour-fixe-Macher ihre Gäste im Kulturlokal Horns Erben in der Arndtstraße 33. LNS-Leser sind herzlich eingeladen.

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im April 2019