Umschlag »Die große Freiheit ist es nicht geworden«

»Denn Brandenburg wie die übrigen neuen Länder, die 1990 wieder gebildet wurden, sind allesamt eine Kreation von Generalissimus Josef Stalin. Und sie haben auf allem anderen als einem demokratischen Weg das Licht dieser Welt erblickt.
1945 hatte die sowjetische Besatzungsmacht eine Gliederung ihrer Zone vorgenommen und damit die Länder (Provinzen) Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen gebildet. Übrigens noch vor den meisten Westländern, und so gesehen sind die ›neuen‹ Länder älter als die meisten Alten.«
(Seite 49)

Dreißig Jahre und kein bisschen weise?

Warum ich dieses Buch nicht mehr aus der Hand legte
Von Michael Zock

Schätzen Sie doch mal: Wieviel Lesezeit braucht man für ein Sachbuch mit 250 Seiten? Ich ziehe die Frage sofort zurück, denn sie ist nicht gerade von der intelligenten Art. Ignoriert sie doch Lesetempo, Leseverständlichkeit und Leselust.

Knapp sechs Stunden brauchte ich für »Die große Freiheit ist es nicht geworden«, Autor Matthias Krauß, erschienen im Verlag »Das Neue Berlin«. Ob das rekordverdächtig ist, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass ich die vergangenen Tage diese »Freiheit« verschlungen habe, obwohl mich die Unterzeile »Was sich für die Ostdeutschen seit der Wende verschlechtert hat« zunächst etwas skeptisch stimmte. Gibt es doch derzeit über dieses Thema Dauerdiskussionen in allen Medien und Foren.

Überraschung, auf der ersten Seite. Ein Gedicht von Erich Kästner »Die kleine Freiheit«, über die frühen Jahre der alten Bundesrepublik. Und die Erkenntnis des Autors Matthias Krauß: Es ist viele Jahrzehnte später auch Ostdeutschland, dem Beitrittsgebiet, buchstäblich auf den Leib geschrieben.

Der Journalist Krauß, Jahrgang 1960, geboren in Hennigsdorf, studierte an der Universität in Leipzig und begann vor 30 Jahren bei der »Märkischen Volksstimme« zu formulieren und zu recherchieren. Lebte also die eine Hälfte in der DDR, die andere in der nun vereinigten BRD, mit ihren alten und »neuen« Ländern.

Seine Erfahrungen und Recherchen prägen unaufdringlich, aber für mich sehr überzeugend, tiefgründige, streitbare Gedanken und Schlussfolgerungen in punkto Reizbegriff „Verschlechterung«. Ja, es war damals nicht alles schlecht, und es ist auch heute nicht alles schlecht an Rhein, Elbe und Pleiße. Nur: Dieser Allerweltsatz, hilft in diesem Fall nicht weiter.

Also, zitiere ich lieber. »Dass man Toten nichts Schlechtes nachsagt, gilt offenbar als Norm nur im individuell-menschlichen Bereich. Staaten können das nicht für sich reklamieren und ganz besonders nicht die 1990 verblichene DDR, die angesichts des seit 30 Jahren gegen sie durchgezogenen agitatorischen Programms, eine einzige Schreckenskammer gewesen sein muss.« (Seite 9)

Nein, Matthias Krauß lässt die Schattenseiten des kleinen untergegangenen Landes nicht aus, polemisiert nur gegen die Vergangenheitsbewältigung des scheinbar siegreichen anderen großen deutschen Staates. Die 24 Kapitel sind von einer Art, dass man das Buch nicht von Seite 1 bis Seite 266 durchweg lesen muss. Nein, man lese nach Interesse und Lebenserfahrung und Tageslaune.

Ich habe begonnen mit: »Wenn am 13. August 1961 die Wende stattgefunden hätte«, blätterte zurück zum Kapitel »Hexe, Jude, Stasi-IM« und musste nachdenklich grienen bei »Die Phase im Rausch«. Ja, da fällt einem der in Leipzig geborene Schauspieler Eberhard Esche und sein unsterblicher »Hase im Rausch« ein. Zitat: »Dass ich (E.E.) auf der besseren Seite Deutschlands geblieben bin, bin ich meinem Beruf schuldig.« Esche besaß bis zu seinem Tode den »Ring des Deutschen Theaters«, der von Eduard von Winterstein über Herwart Grosse auf ihn gekommen war. Auch die einstigen Kollegen Renate Blume, Rolf Hoppe oder Christel Bodenstein, alle finden sich in diesem Kapitel mit unverwechselbaren Gedanken und Sichten wieder. Waren die DDR-Träume Illusion, waren sie Schäume? Rolf Hoppe: »Bitteschön, Traumland. Aber es waren auch gute Träume darunter.« (Seite 196)

Nach so viel DDR-Kultur ein abschließender politischer Gedanke, der es meines Erachtens in sich hat: »Auch die Ostdeutschen hätten (nach 30 Jahren) endlich begriffen, was die Mehrheit der Westdeutschen schon lange begriffen hatte: dass bestialische Verbrechen dann keine bestialischen Verbrechen mehr sind, wenn der freie Westen sie begeht« (Seite 255)

Unzählige Filme und Dokumentationen enden derzeit mit dem Jubel auf der Mauer. Aber: Nicht nur sie ist eingestürzt. Wer jubelt heute? Wer protestiert heute? Wer weiß alles besser? Wer bestimmt in der Politik? Matthias Krauß sorgte bei mir für anhaltenden Erkenntnisgewinn bei diesen nicht einfachen Fragen, der über meine sechs Lesestunden weit hinausgehen wird.

Matthias Krauß: »Die große Freiheit ist es nicht geworden – Was sich für die Ostdeutschen seit der Wende verschlechtert hat«
Das Neue Berlin. 256 Seiten, 14,99 Euro. ISBN 978.3-360.01 46-0

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im September 2019