Wolken.Heim im Schauspiel Leipzig

Wolken.Heim Foto: Rolf Arnold/Schauspiel Leipzig

Neues.Heim

Von Daniel Merbitz

Hier wird Programmatik groß geschrieben: Die feierliche Eröffnung der neuen Spielstätte des Leipziger Schauspiels, an der Ecke Bosestraße/Dittrichring, mit dem auf die langjährige Nutzung verweisenden Namen »Diskothek«, wird mit »Wolken.Heim«, dem großen, schweren und wichtigen Werk von Elfriede Jelinek, zelebriert.

Ein Theaterstück von Elfriede Jelinek als Bühnenweihfestspiel. Dies weist auf die Bedeutung hin, die der aufwendig zum Theaterraum umgestalteten ehemaligen Diskokugelheimstätte durch Enrico Lübbe zugewiesen wird: Die »Diskothek« widmet sich vornehmlich der zeitgenössischen Dramatik, der Autorenförderung und den erinnerungswürdigen Stücken.

Nach nur neun Monaten Bauzeit, von der Entkernung bis zur Stahlträgerzauberei, transformierten sich die Investitionsmittel der Stadt Leipzig in Höhe von 4,6 Millionen Euro in eine funktionale wie einladende Spielstätte mit flexibler Zuschauertribüne und dynamischer Szenefläche sowie moderner warmfreundlicher Industriecharme-Bar, die alte und neue Hipster anziehen wird. Schon unter der Intendanz von Wolfgang Engel gab es den Traum, die Flirtdisko zur Spielstätte umzugestalten, da wurde aber noch heftig getanzt, gefeiert und geschwitzt. Enrico Lübbe dankt bei der Eröffnung auch den vormaligen wie aktuellen Leipziger Kulturbürgermeistern, Michael Faber und Skadi Jennicke, für deren Unterstützung und betont, dass Zweitspielstätte zweitrangig klingt, es aber nicht sei. Skadi Jennicke wünscht »Toi, Toi, Toi« für die neue Spielstätte.

Nach dem Schereneinsatz am Eröffnungsflatterband nimmt das Publikum im breiten Saal Platz und staunt über das im braunen, raumhohen Bilderrahmen zu sehende – im wahrsten und engsten Wortsinne – Bühnenbild des Neo-Rauch-Meisterschülers Titus Schade. Ein Fachwerkbauernhof, mit Hofmauer inklusive Graffiti-Karl-Marx, mit Türchen und Fensterchen, aufklappbar und wandelbar. Wenn sich die Tore öffnen wie im Puppenhaus wird klar, hier wird zwischen Puppenheim und Biedermeierheim changiert und das Wolkenkuckucksheim seziert.

Elfriede Jelinek, Literaturnobelpreisträgerin und ehemaliges langjähriges KPÖ-Mitglied, hat 1988 mit »Wolken.Heim« einen großen Zitate-Teppich der deutschen Geschichte gewebt, von Hegel, Hölderlin, Heidegger bis zur R.A.F., der den latenten und offenen Rassismus einkleidet, ohne jegliche Sprecher- bzw. Rolleneinteilung.

Enrico Lübbe hat in seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Theaterpreises »DER FAUST« ihr Lebenswerk gewürdigt: »Elfriede Jelinek gelingt es ein Verhalten offen zu legen, das uns heute wieder verstärkt begegnet: dass nämlich Ungeheuerliches und Unfassbares ausgesprochen wird, als sei es das Normalste und Selbstverständlichste der Welt.«

Das erste Wort auf dieser neuen Bühne hat – und dies kann als stille Auszeichnung für die zurzeit beste Schauspielerin des Hauses gelesen werden – Anna Keil im rosa Faltenkleid mit altrosa Strickjacke. Sie treibt Hegels Sentenz »Die Freiheit, das einzig Wahrhafte des Geistes« in hohe Sphären, immanent den Absturz bitter erahnend.

Intendant und Regisseur Enrico Lübbe zeigt betont tiefsinnig und unterhaltsam Elfriede Jelineks Florettkampf gegen das Spießertum und die Wohnzimmerrassisten, gegen die philisterhaften Bildungsbürger und Wutbürger, gegen Pelzmäntel-Yuppies und geistige Brandstifter: »Wir sind hier zu Haus.« »Schlagt sie!« Bei Kerzenschein und Klaviermusik.

Enrico Lübbe lässt mit Pantomime und Klangmustern im Stile Robert Wilsons die Doppelbödigkeit ausloten und nähert sich dem deutschen Nebelwaldmythos. Anna Keil, als hübsches Rotkäppchen, hohen Heldengesang intonierend, schält das Böse aus dem Naiven heraus, mit dem Wolf tanzend, dort wo früher die 1990er Jugend tanzte: »Wir sind der Sockel, der die Statuen der Sieger trägt.«

Ebenso überzeugend: Tilo Krügel, Hartmut Neuber, Bettina Schmidt und Hubert Wild.

Der düstere deutsche Nebel als Schablone und Deutungsmuster, bewegte Wolkenbilder auf digitalen Gemälden, rauchender Schornstein, nebelstickiger Wald. Jelineks Crossover. Rapunzel-Travestie, auferstandener Kaiser, Rotkäppchen mit Violine. Enrico Lübbe zaubert Assoziationen, Becketts letzte Tonbänder werden abgewickelt als Lametta für die deutsche Tanne, die Gedanken reisen durch die Zeiten, Handzettel, Notenblätter, Schreibmaschinen sind ihre Werkzeuge, Heimatfilmromantik wird dekonstruiert und demaskiert als Folie mancher Deutschtümelei. Elfriede Jelinek entlarvt »Das heilige Vaterland« als Ackerboden des Völkerhasses.

Fazit: Eine starkes »Wolken.Heim« im Neuen.Heim dank des Trios Jelinek, Lübbe, Keil.

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im Dezember 2017