Diskussion am tschechischen Messestand

Diskussion am tschechischen Messestand Fotos: Daniel Merbitz

Schmelztiegel

Tschechien auf der Leipziger Buchmesse / Von Daniel Merbitz

Ahoj! Nach 24 Jahren ist Tschechien wieder Gastland auf der Leipziger Buchmesse. Naheliegend, selbstverständlich sollte man meinen, so fest wie die Fäden der Literaturgeschichte zwischen beiden Ländern und Sprachen miteinander verwoben sind.

Aber fast ein Vierteljahrhundert Pause, Schweigen. Aussitzen? Umso kräftiger und gewichtiger ist jetzt der Auftritt, als ob sich etwas angestaut hat. Endlich wieder Gast in Leipzig! Diese positive Vibrationen, diese Freude, überall zu spüren bei den Autoren und Machern des Gastlandauftrittes.

Wir verbinden viel und uns verbindet viel mit der Literatur unseres Nachbarn. Kafka, Kundera, Kohout. Allein, wenn wir an Prag denken – Schmelztiegel der Künste und Sprachen und Menschen. Hašek, Čapek, Reinerová. Sternstunden und finstere Zeiten. Mozart und Monarchie. Verfolgung und Verbrechen. Freude und Leid. Glück und Liebe. Spejbl und Staropramen. Spindlermühle und Skoda. Sehnsucht und Schönheit. Prager Frühling und Charta 77. Samtene Revolution und Sezession. Ein Dichter, dann Staatsfeind, Staatslenker, Dichterpräsident: Vaclav Havel.

Jetzt stehen seine Weggefährten und die Enkelgeneration hier in Leipzig und zeigen die Vielfalt der Literatur von Brno bis Prag. Vom Samtenen Herbst zum sonnigen März, von 1989 nach 2019: Vaclav Havels Freund Pavel Kohout – ein bescheidener, ruhiger, älterer Herr, dem man seine 90 Jahre nicht ansieht und der viel erlebt hat vom Frühling bis zur Eiszeit, vom Ausschluss aus der kommunistische Partei 1969 bis zur Freiheit des Denkens und Handelns – sitzt nun bei der Eröffnungspressekonferenz der Leipziger Buchmesse und lauscht dem tschechischen Kulturminister Antonín Staněk. Der Minister spricht von einer großen Ehre und Verpflichtung, Gastland auf der Leipziger Buchmesse zu sein.

Dann kommt jemand auf die Bühne, der die ČSSR und die USA kennt: Neugierig ist man auf den Autor und Illustrator Peter Sís, insbesondere auf seine Auseinandersetzung dem Kalten Krieg: »Die Mauer. Wie es war, hinter dem Eisernen Vorhang aufzuwachsen«. Hier spürt man dem Magischen nach, für das die Literatur aus Tschechien auch berühmt ist. Hier trifft das Phantastische auf das Realistische. Utopie begegnet Menschen.

Sie strömen einem seltsamen Ort zu. Der opulente Messestand des Architekten und Designers Martin Hrdina lockt die Lesehungrigen, die Diskussionsfreudigen, die Neugierigen an. »Ahoj« steht auf den Flaggen. Ein Schiff oder eine Arche, ein Tempel, ein Amphitheater, ein Schmelztiegel? Milan Kundera obwohl nicht körperlich in Leipzig anwesend, geistert über dem Gastland-Messestand und würde seine Wall-of-Fame, eine Wand mit den Titelbildern seiner in fast alle Sprachen übersetzten Büchern, schick finden, diesen Geburtstagsgruß an den Neunzigjährigen.

»Ahoj« der Gruß und zugleich die täglich erscheinende Messezeitung des Gastlandes informiert und animiert zum Nachdenken über unseren Nachbarn. Und dann sich bewegen, nach dem Stehen und Sitzen, am besten zur himmelblauüberwölbten Glashalle und stehen bleiben vor einem Bronze-Trabant auf vier Beinen. Es ist das Kunstwerk von David Černý. »Quo vadis?« Dieses Vehikel steht auch in der Prager Botschaft der BRD, ja, der berühmten, der mit dem bekannten Halbsatz.

Dieser unbeendete Satz ist mittlerweile fast dreißig Jahre alt. Trabis bevölkerten im September 1989 die winkligen Gassen, aufgegeben oder verkauft. Wie bald das dazugehörige Land. Erinnerungen an früher. Zu Gast bei alten Freunden, als es noch die Tschechoslowakische Sozialistische Republik gab, für uns Kinder damals ein exotisches Land, fremde Sprache, hübsche Münzen, bunte Filzstifte, Ost-West-Cola. Ein Hauch von weiter Welt, für die Erwachsenen das schöne Land von Kafka bis Kundera. Prager Frühling und Prager Pitaval.

Eine Generation weiter. Zu Gast bei neuen Freunden: Leipziger Hipster lauschen dem Buchstabenrauschen. Eine Generation, die Tschechien und die Slowakei als zwei Staaten kennt. Und den real existierenden Sozialismus nicht mehr. Hüben wie drüben. Die neuen Stimmen sind in Tschechien auf dem Weg, sich ihr Land, sich ihre Welt zu erklären: Die ruhig und sortiert wirkende Kateřina Tučková, Jahrgang 1980, die mit »Gerta. Das deutsche Mädchen« und »Das Vermächtnis der Göttinnen« in ihrem Heimatland polarisiert und politisiert. Geschichte hier, Gegenwart dort, wenn man ein anderes Büchlein herauszieht. Man wird neugierig und weitet den Blick: Auf die moderne Mährische Bibliothek in Brno, die den Gastlandauftritt choreographiert hat. Moderne Architektur mit alten Geheimnissen. Die Magie der Bücher, am liebsten gleich hinfahren. Und dann träumen wir von den hellen und dunklen Gassen der alten Kleinseite in Prag. Die tschechische Literatur, diese edlen Metalle, diese Hitze der Lust am Lesen verschmelzen miteinander, hier auf dem Gesamtkunstwerk Buchmesse. Alte und neue Stimmen zischen. Wir träumen uns hinein. Hinein in den Schmelztiegel der Wörter.

Ahoj!

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im April 2019

Messezeitung des Gastlandes

Täglich eine neue Messezeitung am Stand des Gastlandes Tschechien
 

Kulturminister Stanek

Tschechiens Kulturminister Antonín Staněk
 

David Černý

Der Künstler David Černý
 

Martin Krafl<

Der Programmkoordinator des Gastlandauftrittes Martin Krafl
 

Kateřina Tučková

Die Schriftstellerin Kateřina Tučková