Vernissage der Ausstellung

Vernissage bei Gille Foto: Daniel Merbitz

SIGHARD GILLE: CAMERA OBSCURA

Geleitwort zur Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig von Peter Gosse

Wenn Sighard Gille die Leinwand bearbeitet in seinem Arbeitssaal in der Leipziger Naumburger Straße, stehend selbstredend (denn das edle Gewerk des Malens, wie schon sein Lehrer Heisig klarstellte, gehört im Stehen vollzogen) – wenn er dies also tut, so verwandten wie unverwandten Blicks abwechselnd den zu Malenden wie den auf der Staffelei im Entstehen begriffenen Gemalten scharf musternd, dann ist nur das Schapen des Pinsels zu hören. Ein hartes Geräusch in die Stille herein – es ist nicht zu ahnen, was an Malerei sich da ereignet.

Nämlich ein hoch vitales, ein schäumendes Ja-Sagen. Das Leben, aus den drastischen Farben hervor, offenbart sein unveräußerliches Wesen: muskulös zu sein, schwellkörperlich und willens. Was Wunder, Sighard, dass mir, Deiner Arbeit angesichtig, der alte Ugo da Carpi einfällt, der im Vatikan die Farben vermittels seiner Fingerkuppen auftrug – »fata senza penello«, gemacht ohne Pinsel. Womöglich kommt Dich bisweilen die Gier an, Deine Malstoffe zu essen? Leicht fällt es mir jedenfalls, einem Rausch zu erliegen. Du stellst uns, scheint mir, die Welt bereit, nicht um sie zu deuten oder gar zu deuteln, sondern um an ihr trunken zu werden.

Aber nicht nur die zwei Dimensionen der Fläche, gar den Raum nimmt dieser Mann forsch in Anspruch: Das Museum nebenan beherbergt eine aufregende Installation, ca. 1000 Kubikmeter umfasst sie: An Seilen hängen, klettern, lechzen, genesen,verkommen, lungern, klimmen, verbrauchen sich, verfassen sich zwölf Menschwesen, von Dulder Jesus doppelgesichtig so gesehen wie übersehen – ein Abbild eines quälenden Down-Under wie konvulsiven hoffnungstiftenden Sich-immer-wieder-Berappelns unserer Gattung.

Das bringt Professor Gille hervor: Kunst, dies Unnötige, das unersetzlich ist. Und in welcher Opulenz! Muss es da noch die Kargheit der Fotografie sein, bedarf es da noch des mageren Schwarzweiß? Wozu dieser hier im so ansehnlichen Leipziger Stadtgeschichtlichen Museum zu besichtigende Minimalismus?

Minimalismus: ja! Denn einfacher gehts nimmer: Man stelle sich ein Zigarrenkistchen vor oder eine alte Pouva Start ohne Linse, auf der Rückwandung ein lichtempfindliches Zelluloid, und das Licht mitsamt seiner Außenwelt dringt, die Seiten verkehrend, camera-obscura-gemäß durch ein Loch, nein: Löchlein ein. Es handelt sich also um sehr wenig Licht, die Belichtungsdauer bemisst sich in Viertelstunden. Ein Bild entsteht in unterschiedlichen Grautönen.

Van Gogh hatte verwundert festgestellt, dass Marine-Blau mit Orange gemischt ein Grau ergibt. Sollen wir rückläufig verfahren, also das Grau all der Arbeiten trosteshalber in diese beiden Farben aufspalten, um ein Gefallen an dieser Exposition zu finden?

Bleiben wir geduldig.

Denn siehe: Diese simple Technik wirkt Erstaunliches: Sie entzeitlicht, will sagen: es geschieht nichts. Durch die wie unaufhörliche Belichtung wird das quick Sich-Ereignende weggesogen von der Ewigkeit. Das Mobile – schnoddrig gesagt – ist dahin, es bleiben die Immobilien. Als sei eine Neutronenbombe gefallen.

Zur Entzeitlichung tritt die Entlebendigung. Der NYer U-Bahnhof, der Menschen enthoben und also der Menschlichkeit, erscheint als düstere Röhre, Abbild unabweislicher Tristess.

Freilich: Auf und davon sind auch die Quisquilien des Alltags, und Johann Sebastian Bach strahlt auf, vor der filigranen Wand der Thomaskirche, in der Eminenz seiner Unvergänglichkeit.

Dem arbeitet ein Weiteres zu: die Unschärfe. Die Züge des großen Kantors, indem sie von Einzelheiten befreit werden, scheinen auf als vom Mysterium des Musik durchgangen,von der Inbrunst der Versenkung luzide geflutet.

Noch eine Reizung, die vierte, bietet das Lochkamera-Verfahren, nennen wir sie Enträumlichung: Die Gegenstände, ob nah oder fern – sie stellen sich dar in identischer Deutlich- oder Undeutlichkeit. Sie wollen uns in gleichem Grade angehen, ob zu unseren Füßen, ob jwd: die herabgefallenen Magnolienblätter in ihrem Entblühtsein, diese wie plastinierten weißen Leblosigkeiten – sie stellen uns die Perspektivlosigkeit vor Augen, im übertragenen, aber auch nichtübertragenen Sinne, dem der Tilgung von Distanz.

Ja, der Raum oder vielmehr dessen Fehlen: Die Leere. Wie doch die Engelsburg in Rom, befördert durch die apparat-gegebene Weitwinkeligkeit und, selbstredend, durch den bodennahen Blickpunkt, die nagende Perspektive der Ratte (wie andernorts schön gesagt worden ist) – also wie doch die Engelsburg als zum Verschwinden verurteilt erscheint. Als ob der Tiber, dem die Kamera Sintfluthaftes zuteil werden lässt, sie, die phlegmatisch aufgewölbte Feste, alsbald mit sich nähme.

Ich sagte: Kamera. Natürlich ist es aber der Mann, der sie handhabt. Ist er, trotz gebotener Objektivität dieses Gewerks, erkennbar? Denn Kunst ist Individuation: Kenntlichkeit des Machers ist das Gütesiegel der Kunst. Ist er deutlich als ein Unverwechselbarer?

Und ob!

Betrachten Sie den Leipziger Naschmarkt: Am Eingang der Panther, ein gutmütiges Bronze-Wesen (ich habe meine Söhnchen vorm halben Jahrhundert auf ihm reiten lassen) – Gille verleiht ihm Züge bedrohlicher Fresslust. Aus gutem Grund, dem des Kontrastierens: Wenige Meter entfernt, Zentrum dieses traulichen Platzes, steht Goethe: Die Skulptur wie des Metalls enthoben, das Antlitz aufgelehnt in die Dauer: Gille erhöht Goethen und sich, indem er ihn in gebotener Devotheit schräg aus wahrscheinlich kniender Position lang im Licht lässt.

Oder jenes Bild, die Westseite des Augustusplatzes zeigend. Das Ich des Abbildenden, nein: Bildners: nur scheinbar ist es nicht zugegen. Denn er weiß, aus dem Gewandhaus blickend, das Erhebliche des von ihm Geleisteten (nämlich seines Gemäldes von großer Art) in seinem Rücken, und draußen zeigt sich in mäkeliger Blässe das Paulinum und der Rest der Front; ansehnlich allein das venezianisch bestimmte Kroch-Hochhaus mit den Achtung gebietenden Glocken-Männern obenauf; sie unscharf, als ob sie eben die Glocken schlügen.

Highgate, Karl Marxens Grab, apart links außen hängend: Trüb, unscheinbar, entfernt wo nicht entrückt. Der geniale Visionär steht in eine erschütternde Abgetanheit hinein; eine Vakuumhaftigkeit, die die herzreißend schöne Phantasmorgie der universellen Egalité ins Illusorische wegstuft. Indessen herrscht beklagenswert »die tiefe Unsittlichkeit unserer Zivilisation, eine Welt des legalisierten Raubens«. Diese weiterhin gültige Diagnose liefert – Richard Wagner. Und indem bereits Sophokles in tiefer Vergangenheit vermerkte, »Geld führt des Verbrechens Weg, Geld lehrt den frevlen Mut, dem nichts mehr heilig ist«, wird wohl auch die Zukunft damit aufwarten, dass die Völker »im Lähmungsgriff des ihnen abgenommenen Geldes« (Volker Braun) stecken.

Bestimmt solches Empfinden nicht auch die Aufnahme vom Völkerschlacht-Denkmal, jene gestreng symmetrische? Ein Stein-Volumen, das den Frieden einmahnen soll – uns, oder jedenfalls mich, starrt es an frontal mit atemraubend düsterer Militanz.

Schließlich ein Blick auf jenes großformatige Blatt, Times square, welches einen ziemlich unerquicklichen Straßenzug NYs zeigt. Ausnahmsweise hat der Meister seine Botschaft nicht allein durch das schiere Objekt herbeideuten lassen mögen, nein: er hat Hand angelegt. Hat das tödliche Kain-Abel-Geschehnis durch eine Schablone hineingesprüht: zwei Menschen-Leiber, verfangen im Brudermord.

Indes: Darüber findet sich als eine Entgegnung, aufgetragen in Zuversicht stiftenden Farben, ein frohes Kind – es ist übrigens die Enkelin; bisweilen lässt sie tatsächlich von der Freilufttreppe vor Opas Werkraum ein von ihm gefaltetes Papier-Fliegerchen starten in eine wie unversehrte Luft. Die Hoffnung – sie stirbt nicht nur nicht zuletzt, sie stirbt überhaupt nicht, solange unser Geschlecht an Erden oder im erdnahen Raum siedelt – und wir befinden uns ja erst im, freilich schmerzensreichen, Beginner-Alter der Pubertät.

Grund genug, mit der Frische der Enkelin die Gegenstände ins Auge zu fassen. Die Ansichten der Brooklyn-Brücke erinnern mich an das große einschlägoge Gedicht Majakowskis, der, Wladimir, in seiner unnachahmlichen Art luststöhnt: »Wot eto da! Diese Bücke – was für ein Ding!« Und in Leipzig die Plagwitzer König-Albert-Brücke: Heiteren Sinns scheint sie, diesmal aus Stirnhöhe ins Bild gefasst, die beiden Ufer einander annähern zu lassen, deren wohlige Verschwisterung zu denken ist uns anheimgegeben.

Überhaupt Leipzig, ranggleich gemacht mit den ebenfalls dokumentierten Metropolen London, Jerusalem, Hamburg, eben New York und Rom: Wie es sich, Leipzig, in diesen Blättern darbietet! In balsamiger scheinbarer Ein-Tonigkeit, im Meltau seiner Unschärfe, im milden stufen-entbehrenden Schmelz der Licht-Valeurs, im Vermählen von Vorder-und Hintergrund – unsereins würde, wenn nicht ohnedies zugegen, einen Juckreiz in den Fersen spüren: Auf nach Leipzig! Eingedenk zumal des prangenden Diktums Thomas Manns, der seinen Dr. Faustus, im gleichnamigen Roman, sagen lässt: »An der Pleiße, Parthe und Elster … geht ein ander Puls, weil nämlich ein ziemlich groß Volk hier versammlet ist, ... was von vornherein zu einer gewissen Sympathie und Duldung stimmt. … Ist schon prächtig gebaut, mein Leipzig, … hoch leuchtende universitas.«

Welch köstliche Bestätigung das Einladungs-Bildnis: Die aus der Nikolaikirche herausgetragene Säule (sie macht jegliche zuzüglichen Einheits-Denkmale überflüssig) – wie doch, im betörenden Gegenlicht, feierlich ihre Palmen-Krone der Kraft der Schwere entbehren zu wünschen scheint, wie sie abhebt jubilierend sonnewärts, wie sie herüberhalluziniert das Atembeflügelnde des großen Herbstes 89, da wir einig Volk waren, da wir Volk waren.

Mit der Lochkamera hat der Bildner-Professor Staunenmachendes zuwege, nein: zu Werke gebracht. Er hat sich ein kunstseltenes Zaumzeug aufgestülpt, in das er saugend hineinpasst. Ein, so wird ersichtlich, »wesentlicher Einzelner« ist er, der das »Bauzeug eines besonderen Zeitalters« (Hegel) zu fasslicher Gestalt verfugt.

Es bleibt uns zu blicken und zu genießen. Und Dir, Sighard, und Deiner wacker beihelfenden Frau Ina energisch Dank zu sagen.