Ein Besuch im Reclam-MuseumFotos: Daniel Merbitz
Für Salon und Mansarde
Von Daniel Merbitz
Im alten Verlagsviertel von Leipzig, inzwischen fast vollständig gentrifiziert, mit schönen Fassaden und steigenden Mieten, ist ein neuer alter Schatz zu entdecken. Man muss sich erstmal durch eine Hausdurchfahrt und dann in das Untergeschoss bewegen, ein Aufsteller auf dem Fußweg weist die Richtung, um ihn zu heben. Als »Literarisches Museum« im Jahr 2011 gegründet, darf sich diese von einem eingetragenen, gemeinnützigen Verein getragene Institution jetzt stolz »Reclam-Museum« nennen, mit dem Segen des namensgebenden Verlages mit dem Sitz im fernen Ditzingen, aber ohne dessen finanzieller (dafür logistischer) Unterstützung. Der Leiter des Museums Hans-Jochen Marquardt – Jahrgang 1953, promovierter Germanist, einst Mitglied der PDS-Fraktion im Leipziger Stadtrat, 1996 bis 2001 Direktor des Kleist-Museums in Frankfurt (Oder), später Beigeordneter für Kultur und Bildung der Stadt Halle (Saale) – sammelt seit über einem halben Jahrhundert Bücher aus dem Reclam-Verlag und hatte im Jahr 2006 die Idee zur Gründung des Vereins als der Leipziger Standort des Reclam-Verlags geschlossen wurde. Sein Vater Hans Marquardt (1920–2004) war ab 1953 Cheflektor und von 1961 bis 1986 Leiter des Reclam-Verlags in Leipzig.
Vor der Eröffnung der neuen Räumlichkeiten in der Kreuzstraße im Oktober 2018 war das Museum sechs Jahre heimatlos, nachdem es aufgrund der Insolvenz des Plöttner Verlages seine dortige Heimstatt im Verlagsgebäude (in den Jahren 2011 und 2012) verloren hatte.
Hans-Jochen Marquardt möchte auf die große Tradition aufmerksam machen und verweist auf die zwei Säulen der Dauerausstellung. Zum einen sind in der Präsenzbibliothek über 10.000 Exemplare aus der legendären Reihe »Reclams Universal-Bibliothek« zu sehen und zu nutzen, zum anderen wird die Geschichte dieser erfolgreichen Buchreihe und des Verlages skizziert. »Es ist die älteste noch existierende Taschenbuchreihe«, so der Museumsleiter. Das Museum hilft bei wissenschaftlichen Anfragen gern weiter. Zu den besonders interessanten und wertvollen Exponaten gehört das Original-Reclam-Bücherregal aus dem Jahr 1911, erhaben wie ein Altar wirkend. Auch der Nachbau eines historischen Bücherautomaten, diverse Tarnschriften (um Literatur auch in finstersten Zeiten lesbar zu machen) sowie ein Prachtexemplar mit der Signatur von Thomas Mann zählen zu den Besonderheiten. »Ut bibat populus« (»Damit das Volk trinke«) – dieser Wahlspruch von Thomas Mann begleitet die Ausstellungsbesucher. Von 1945 bis 1990 existierten zwei Reclam-Verlage und zwei Universal-Bibliotheken: in Leipzig und in Stuttgart/Dietzingen. Auch Kuriositäten aus der Zeit des Kalten Krieges sind zu sehen: Der Röderberg Verlag, ein der DKP nahestehender Verlag, produzierte 150 Titel aus der DDR-Reihe der Universal-Bibliothek.
Initialzündung für die Gründung der Universalbibliothek war dem Grunde nach das im 18./19. Jahrhundert noch neue juristische Gebiet des Urheberrechtes, genauer gesagt, es waren die Regelungen, die das verwertungsrechtliche Ende und damit den Beginn der »Gemeinfreiheit« von Literatur markierten. Die Bundesversammlung des Deutschen Bundes schuf 1837 ein Urheberrecht mit einer zehnjährigen Schutzfrist seit Erscheinen des Werkes, welche 1845 auf 30 Jahre nach dem Tode des Urhebers verlängert wurde. 1856 wurde gesetzlich geregelt, dass Werke derjenigen Autoren »gemeinfrei« wurden, die vor dem 9. November 1837 gestorben waren. Anton Philipp Reclam (1807–1896) und sein Sohn Hans Heinrich Reclam (1840–1920) hatten auf diesen Tag hingearbeitet. Daher erschien am 10. November 1867 der erste Band von Goethes »Faust« in der neuen Reihe Reclams Universal-Bibliothek. Keine Tantiemen für die Rechteinhaber und eine große Auflage waren die zwei Hauptfaktoren für eine moderate Preisgestaltung. Der erste Band kostete so viel wie ein Stück Kernseife. »Für den Salon und die Mansarde«, brachte es Rudolf Gottschall, ein Freund von Hans-Heinrich Reclam auf den Punkt.
Damit wir diese und viele hundert andere Geschichten aus der turbulenten Historie des Reclam-Verlages noch überliefert und gezeigt bekommen, braucht es engagierte Bürgerinnen und Bürger. Im Trägerverein des Museums sind sie versammelt. Sie tragen dieses wunderbare, kleine, feine Museum. Verlasst eure Salons und Mansarden: Besucht das Reclam-Museum!
Reclam-Museum, Kreuzstraße 12, Leipzig, geöffnet am Dienstag und Donnerstag (außer an gesetzlichen Feiertagen und zwischen Weihnachten und Neujahr): 15.00 Uhr bis 18.00 Uhr, Eintritt frei, www.reclam-museum.de
Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im November 2019
Hans-Jochen Marquardt in »seinem« Museum