Leipzig wird doch nicht Millionenstadt

Leipzig geerdet

Von Cornelius Luckner

Wermutstropfen für alle Euphoriker: Die Millionenstadt Leipzig kommt so schnell nicht. Auch die reichlich 700.000 Einwohner bis zum Jahr 2030, die kühne Deuter der Statistik drei Jahre lang wie eine Monstranz vor sich hertrugen, rückt in eine ferne Zukunft, in der die Grenzen zwischen Prognose und Utopie verschwimmen. 644.000 Einwohner in zehn Jahren – das ist der neue Leipziger Richtwert.

Wir wachsen weiter, aber langsamer als in den letzten acht Jahren, heißt es nunmehr seitens der Verwaltungsspitze. Als wesentliche Ursache für den flacheren Wachstumspfad muss vor allem die gesunkene Zuwanderung herhalten. Das ist eine erstaunliche Akzentverschiebung, galt doch bislang als Hauptgrund für den Leipziger Optimismus in Sachen Einwohnerzahl immer die Attraktivität der vielen neuen Arbeitsplätze, die in erster Linie junge Leute und junge Familien anlocken, und weniger der Zuzug von Geflüchteten der verschiedenen Statusgruppen.

Doch halt, im November erschien ja auch noch der Leipziger Sozialreport 2019, ein 127 Seiten umfassendes Fleißwerk der Arbeitsgruppe »Sozialberichterstattung«. Er bildet ab, wie im vergangenen Jahr 999,2 Millionen Euro – das sind immerhin 59 Prozent des städtischen Gesamthaushaltes – für sozialpolitische Aufgaben aufgewendet wurden. Wer ein zutreffendes Bild der Leipziger Gesamtsituation wünscht, sollte am besten diesen zahlengesättigten Bericht und die Bevölkerungsprognose nebeneinanderlegen und im Zusammenhang lesen. Im Sozialreport steht klipp und klar, dass die Einkommen in Leipzig sowohl niedriger sind als im Durchschnitt des Freistaates als auch im gesamtdeutschen Durchschnitt; darüber hinaus vergrößern sich die Unterschiede zwischen den einkommensschwächsten 20 Prozent und den einkommensstärksten 20 Prozent der Bevölkerung. Der Anteil der unteren Einkommensgruppen sinkt zwar, während der Anteil der oberen Leipziger Einkommensgruppen steigt. Der Anstieg am unteren Ende verläuft jedoch so mäßig, dass er nicht ausreicht, um den Anstieg der Armutsgefährdungsquote zu bremsen. Das Gegenteil ist der Fall – diese beschämende Quote ist gestiegen. Kein Wunder eigentlich, verfügten 22 Prozent der Leipziger Haushalte doch im Jahr 2018 über ein monatliches Einkommen von gerade mal 1.100 Euro. Erschwerend kommt hinzu, wie stark gerade die Mieten zu klettern beginnen. Da sind bescheidene Einkommensteigerungen schnell wieder weg.

Das Beratergremium der Bevölkerungsprognose hat deutlich gemacht, dass das Gewicht des Arbeitsmarktes (und sicher der Löhne, die dort gezahlt werden) umso größer wird, je ambitionierter die Ziele sind, die in Sachen Bevölkerung angesteuert werden. Im Klartext: Leipzig braucht 50.000 weitere, möglichst gut bezahlte Arbeitsplätze, um in 20 Jahren auf ehrgeizig angesteuerte 665.000 Einwohner zu kommen.

Ach ja, Oberbürgermeisterwahl ist am 2. Februar 2020 ja auch noch. Die oben genannten klassischen Themen sind zum Beackern in einer wachsenden Stadt wie geschaffen. Denn wer immer im ersten bzw. in dem mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwartenden zweiten Wahlgang siegen wird – die gewählte Person an der Stadtspitze wird sich in der bis 2027 bemessenen Wahlperiode energisch damit beschäftigen müssen, die Weichen für die Fernziele des Bevölkerungswachstums so schnell wie möglich richtig zu stellen und drohende Schandflecke künftiger Sozialreports vorsorglich zu tilgen.

DIE LINKE mit ihrer Spitzenkandidatin Franziska Riekewald hat zentrale Punkte von der Einkommensentwicklung über die Bekämpfung der skandalösen Kinderarmut bis zu einem Mietendeckel und bis hin zu Fortschritten in der Alterssicherung und Pflege längst klar benannt. Mal sehen, wie Oberbürgermeister Jung, der nach dem Scheitern seiner Pläne, Sparkassenpräsident zu werden, das Ruder wieder komplett in Richtung Leipzig herumgerissen hat, seine Vorstellungen für zehntausende Leipzigerinnen und Leipziger konkretisiert, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Vor drei Jahren war es für den Oberbürgermeister ein Pflichttermin, höchstselbst die schöngerechnete Bevölkerungsprognose zu verkünden. Die aktuelle Vorhersage, mit der überschießende Träume endlich geerdet werden, hat Burkhard Jung lieber nicht vorgestellt. Vielleicht sucht er ja gerade ein neues Ass im Ärmel …

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im Dezember 2019