Geschichten übern Zaun

Russland-Versteher?

Von Dr. Hartmut Kästner

»Kampf hat uns nie schwach gesehen,
doch nie mehr möge es geschehn,
dass Menschenblut so rot und heiß,
der bittren Erde werd zum Preis …
Es weiß, wer schmiedet und wer webt,
es weiß, wer ackert und wer sät –
ein jedes Volk die Wahrheit sieht:
Meinst du, die Russen wollen Krieg?«

Als Jewgeni Jewtuschenko 1961 diese berühmten Zeilen dichtete, machte er inmitten des Kalten Krieges darauf aufmerksam, dass etwas eintreten könne, was 16 Jahre nach Kriegsende eigentlich für unmöglich gehalten wurde, nämlich eine erneute kriegerische Auseinandersetzung zwischen Ost und West. Die Sowjetunion wurde vom Westen als kriegslüsterner Staat gezeichnet, um von den eigenen expansiven Weltherrschaftsplänen und der Aufrüstung abzulenken.

Die Situation heute ist nicht unähnlich der vor 50-60 Jahren: Das Wachstum Russlands, sowohl die Erfolge beim Wirtschaftsaufbau und bei der Erreichung von Wohlstand als auch die Wiederkehr Russlands als starke Macht auf dem internationalen Parkett – alles mit den Namen Putin verbunden – passt den USA und der NATO natürlich überhaupt nicht. Wieder muss das Schreckgespenst von den aggressiven Russen herhalten, um immer dichter die militärischen Kräfte der NATO an die russische Grenze heranzuführen und so das Land einzukreisen. Es muss jeden Deutschen eigentlich mit Scham erfüllen, dass die Regierung Merkel ihr Einverständnis zur Stationierung deutsche Panzer an der litauisch-russischen Grenze gegeben hat.

Von einer solchen Politik distanzieren sich immer mehr Bürger, Linke, religiös Gebundene, Friedensanhänger, Umweltschützer und andere. Dazu gehört auch die Leipziger »Bürgerinitiative Zur Förderung guter Nachbarschaft mit Russland«, die sich 2016 herausbildete und damals 40 Enthusiasten hatte. Der Architekt Johannes Schroth und der frühere Rektor der Universität Leipzig Prof. Dr. Cornelius Weiss waren die treibenden Kräfte.

Ein paar Zeilen aus dem Inhalt:
»Am nächsten Morgen war reges Treiben in Hof und Haus, es war besetzt worden. Panjewagen im Hof, die ausgespannten Pferde auf dem Feld daneben, Proviantsäcke mit getrocknetem Brot, Trockenfisch in Nachbars Stall und im Waschhaus, an den Haken für die Wäscheleine an der Hauswand große Fleischbatzen zum Trocknen aufgehängt, schufen ein fast lustiges und friedliches Bild. Auf der anderen Hausseite unter meiner Schaukeleiche standen Lastwagen, undurchschaubar viele Geräte und Gewehre. Soldaten quirlten herum, kochten an einem Kessel und aßen am Boden sitzend aus ihrem Kochgeschirr. Wir Kinder wurden eingeladen, mit aus ihrem Kochgeschirr zu essen, sollten uns zu ihnen setzen. Aber noch beäugten wir diese Untermenschen mit Skepsis und Angst: was würde noch kommen.«

Nunmehr hat die Bürgerinitiative eine erste, bemerkenswerte Publikation vorgelegt »Geschichten über den Zaun. Zur Förderung guter Nachbarschaft mit Russland«. Viele Autoren steuern Erinnerungen und Erlebnisse bei: Eva Schloss (Die Russen), Christa Rüdiger (Vom Ende der Kindheit), Manfred Hessel (Weihnachten 1949), Cornelius Weiss (Wir »Russland-Kinder«), Clemens Weiss (Die Ärztin) und andere. Diese Erinnerungen strömen, trotz der komplizierten Nachkriegssituation, eine Dankbarkeit gegenüber russischen Soldaten und einfachen russischen Bürgern aus. Die meisten Beiträge schildern, wie die Autoren das heutige Russland bzw. die Sowjetunion erlebt haben, so Frieder Hofmann (Moskau im Sommer 2016), Horst Pawlitzky (Verspätete Reiseandenken), Helga Lemme (Chirurgiepraktikum in Kiew), Reinhard Bernhof (Aufgesetzt in Irkutsk; Stromaufwärts übern Ob), Albrecht Bemmann (Lehrjahre an der Newa), Helga Crostewitz (Eindrücke mit Nachdruck) und andere. Johannes Schroth gibt mit seinen Erinnerungen an den »Tamada« zugleich einen kleinen Einblick in Tisch- und Trinksitten und macht auf die Widersprüchlichkeit mancher gegenwärtiger Entwicklung aufmerksam (Der Fortschritt). Sehr einfühlsam schildert Volker Müller seine frühe Bekanntschaft mit der russischen Literatur (Erste Liebe). Interessant ist die Aufnahme einiger historischer Texte. Heiko Waber erinnert in seinem Beitrag (Zwei Leipzigs schließen Freundschaft), was seit 2014 hinsichtlich der Errichtung eines »Völkerschlachtdenkmals« im Ort Leipzig (südlicher Ural) passiert ist.

Hendrik Lasch hat in seinem Vorwort das Streben der Leipziger »Bürgerinitiative Gute Nachbarschaft mit Russland« – die das Buch verantwortet – gut dargestellt: Die Mitstreiter, verschiedener politischer, kultureller und ideologischer Couleur stoßen sich an der Ungleichheit der Behandlung Russlands im Vergleich zu anderen Staaten. Insbesondere in Ostdeutschland haben viel Menschen vielfältige Erfahrungen mit Sowjetbürgern und Russen, mit dem »großen Bruder«, gesammelt. »Sie pflegen persönliche Erinnerungen an ein großes, faszinierendes, an Widersprüchen reiches Land und seine herzlichen Menschen.«

Cornelius Weiss, der 86-jährige Ideengeber der Bürgerinitiative, schreibt: »Wir sind uns einig in der tiefen Enttäuschung über die geschichtsvergessene und ebenso unmoralische wie unvernünftige heutige deutsche Ostpolitik. Wir sind empört, dass unsere Regierung gegenüber Russland den allwissenden Oberlehrer spielt (...) Haben die Deutschen vergessen, was ihre Großväter und Väter den Völkern der Sowjetunion angetan haben? Wollen sie nicht mehr wahrhaben, dass die Russen trotz ihrer bösen historischen Erfahrungen mit Deutschland großmütig den Weg für dessen Wiedervereinigung frei gemacht haben?« Er wie die Mitglieder der Bürgerinitiative sehen sich als »Russland-Versteher« und begreifen die ursprünglich abwertend gemeinte Klassifikation inzwischen als Auszeichnung.

Leipziger Bürgerinitiative »Gute Nachbarschaft mit Russland«. Geschichten über den Zaun. Zur Förderung guter Nachbarschaft mit Russland. 196 Seiten. 12,00 EURO. ISBN 978-3-96145-779-3

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im Dezember 2019