Ausstellungsansicht der Ausstellung

FANTASTISCHE FRAUEN. SURREALE WELTEN VON MERET OPPENHEIM BIS FRIDA KAHLO, Ausstellungsansicht, © Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2020 Foto: Norbert Miguletz

Künstlerinnen und Surrealismus

Neues Kapitel in der Kunstgeschichte / Von Daniel Merbitz

Die Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main präsentiert in der bereits seit den ersten Eröffnungsminuten überrannten Schau »Fantastische Frauen« ein neues Kapitel in der Kunstgeschichte: Der lange nicht mehr beachtete Beitrag der Künstlerinnen zum Surrealismus. Ein Schatz wurde wieder ins Licht der Kunstwelt zurückgeholt, denn zur Entstehungszeit waren die Künstlerinnen des Surrealismus sichtbarer in den Ausstellungen als heute. Ein beachtliches Forschungsprojekt destilliert sich nun in dieser ersten, großen und vergleichenden Überblicksausstellung von Künstlerinnen des Surrealismus.

Surrealismus als Rebellion

Die verheerenden und traumatischen Wirkungen des Ersten Weltkrieges in ganz Europa, die Revolutionen in Russland und Deutschland und die schwere Nachkriegszeit haben bei vielen Künstlern in den 1920er Jahren die antiimperialistischen und avantgardistische Positionen gestärkt. Dazu kommen die rasanten technischen Entwicklungen vom Verkehrswesen bis zur Elektrotechnik, vom Radio bis zur Kinematografie, die insbesondere das großstädtische Leben prägten.

Dies alles trifft auf eine neue Generation, die gegen die bestehende bürgerliche Gesellschaft protestieren möchte. Sie experimentieren, angetrieben von einer Sehnsucht nach einer menschenwürdigen Welt, arbeiten an einer Zertrümmerung bisheriger künstlerischer und literarischer Formensprache. So entsteht, neben Expressionismus und Dadaismus, eine Rebellion gegen die bürgerliche Welt: der Surrealismus. Die Gruppe um André Breton hat sich 1924 dem Surrealismus zunächst von der Literatur her genähert, bevor sich der Blick in alle Fächer geweitet hat. Die Suche nach geistiger Erneuerung und alternativen Lebensformen treibt sie nach dem Bankrott von Staat, Kirche, bürgerlicher Familie, Sexualmoral und Untertanengeist an. Die Surrealisten setzen an die Stelle der rationalen Weltanschauung die Darstellung des Unterbewussten, des Triebhaften, einer irrationalen Traumwelt – ein Spiegel für das Gefühl des Ausgeliefertseins.

Mitarbeiterinnen, Modelle, Musen

Das brodelnde Paris war ein Anziehungspunkt für freiheitsliebende junge Künstlerinnen. Die Künstlerinnen waren Anfang der 1930er Jahre zunächst Mitarbeiterinnen, Modelle und Musen im Kreis der Surrealisten um André Breton. Die Frau war das zentrale Thema surrealistischer Männerfantasien. Dies war den Frauen zu wenig, sie schufen selbstbewusst unabhängige Werke, durchbrachen damalige gesellschaftliche Konventionen. Vom Objekt zum Subjekt. Und doch: Hinterher werden sie vergessen und abgewertet, maßgeblich initiiert auch von den männlichen Matadoren des Surrealismus.

Tiefenbohrung in Kunstgeschichte

Nationale und internationale Aufmerksamkeit ist der Kunsthalle Schirn in Frankfurt am Main sicher. Diese aufwendige Tiefenbohrung in die Kunstgeschichte ist der Kuratorin Ingrid Pfeiffer zu verdanken, die dieses Projekt maßgeblich verantwortet und rund um den Globus recherchiert hat. Mit Sachverstand und Herzblut. Ob Künstlerin oder Künstler: Die Sujets und die Technik ähneln sich und dies ist auch folgerichtig, wir sind Menschen, egal welches Geschlecht, wir leiden und wir sind glücklich. Unbewusstes, Traum und Zufall, Mythen und Metamorphosen, Literatur und das politische Zeitgeschehen sowie Materialexperimente und inszenierte Fotografie – viele bekannte Themen des Surrealismus kennzeichnen ebenso die Werke der Frauen.

Doch die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse wirken oft zu Lasten der Frau: von der Politik und der Ökonomie bis in den Kunstbetrieb. Kapitalistische und patriarchalische Machtstrukturen verhindern echte Gleichberechtigung.

Andere Perspektiven

Was sehen die Künstlerinnen anders? Durch die Befragung des eigenen Spiegelbilds oder das Einnehmen verschiedener Rollen sind sie auf der Suche nach einem neuen weiblichen und künstlerischen Identitätsmodell.

Frida Kahlo, »Selbstbildnis mit Dornenhalsband«

Frida Kahlo, »Selbstbildnis mit Dornenhalsband«, 1940, Öl auf Leinwand, Collection of Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin, Nickolas Muray Collection of Modern Mexican Art © Banco de México Diego Rivera Frida Kahlo Museums Trust/VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Zu sehen sind Werke von Frida Kahlo (1907–1954). Die geniale Umkehrerin der Ikonographie, wie ihr gekreuzigter Kolibri bezeugt, ist heute selbst schon eine moderne Ikone, im Olymp angekommen, genauer: Sie ist eine Mode-Ikone, was ihr Werk leider zu verschatten droht. Ihr selbstbewusstes wie verstörendes »Selbstbildnis mit Dornenhalsband« (1940) gehört zu den Höhepunkten der Schau.

Toyen, »Der Paravent«

Toyen, »Der Paravent«, 1966, Öl und Collage auf Leinwand, Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris © The Roger-Viollet Photoagency / VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Toyen, eigentlich Marie Cerminova (1902–1980) spürt den Friktionen zwischen Natur und Zivilisation nach. Zugleich verzaubert und provoziert sie mit »Der Paravent« (1966), wo ein Raubkatzengesicht mit menschlichem Mund in Höhe des Geschlechtsteiles einer Frau verortet ist. Ihr Pseudonym, welches sie sich mit 21 Jahren gegeben hat, ist eine Selbstbefreiung gegenüber den in slawischen Sprachen anzutreffenden geschlechtsspezifischen Bestimmungen („-ova“).

Dora Maar, »29 Rue d’Astorg«

Dora Maar, »29 Rue d’Astorg«, 1936, Photomontage, Silbergelatineabzug, Musée national Picasso-Paris, Dation Pablo Picasso 1979, MP3623, © bpk / RMN - Grand Palais / Dora Maar / VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Dora Maar (1907–1997): antifaschistische Künstlerin und, nun ja, auch Muse von Picasso, ist mit melancholischen Fotomontagen vertreten wie »29, Rue d’Astorg« (1936). Sie hat 1934, neben André Breton, das Manifest »Appel à la lutte« gegen den erstarkenden Faschismus unterschrieben und 1935 ein Flugblatt gegen den Stalinismus.

Leihgaben aus aller Welt

Die Liste der Leihgeber ist lang: Metropolitan Museum of Art (New York City), Tate (London), National Galleries of Scotland (Edinburgh), Centre Pompidou (Paris), Musée d’art moderne de la ville de Paris, Musée national Picasso (Paris), Kunstmuseum Bern, Kunstmuseum Basel, Moderna Museet (Stockholm), mumok – Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig (Wien), Museum de Arte Moderno (Mexiko-Stadt) sowie zahlreiche Exponate aus privaten Sammlungen.

Präsentation und Begleitprogramm

Die Präsentation ist strukturiert und logisch aufgebaut, ruhig und nicht auf unnötige, ablenkende Effekte zielend, wohltuend unaufgeregt. Jeder Künstlerin ist ein Kapitel gewidmet. Die gelungenen Wandtexte bieten eine gute Einführung. Dazu ein umfangreiches Begleitprogramm – der Name ist eher zu bescheiden – sehr nah dran am Surrealismus-Overkill: Von der legendären Party »I LOVE ENGTANZ« nebst Ausstellungsbesuch über Filmdokumentationen bis hin zu einem Symposium und den Klassikern wie Kuratorenführungen. Der exzellente Katalog (39,– Euro) darf schon jetzt als neues Standardwerk gelten.

Satyrspiel

Nach so viel Ernsthaftigkeit und Schwere ist es eine kluge Entscheidung, Skulpturen und Rauminstallationen von Richard Jackson zu zeigen. Der 1939 geborene Künstler lebt und arbeitet bei Los Angeles und seine skurrilen wie heiteren bunten Abrechnungen dem Spießertum und Militarismus, wie »The War Room«, atmen diesen lockeren Westküstengeist, der Spaß macht. Irgendwie auch surreal. Eine Art Satyrspiel nach den ernsten Scherzen der Surrealistinnen.

Richard Jackson, The War Room

RICHARD JACKSON. UNEXPECTED UNEXPLAINED UNACCEPTED, Installationsansicht, »The War Room«, © Schirn Kunsthalle Frankfurt, 2020, Foto: Marc Krause

Fazit

Es wird tatsächlich etwas Neues gezeigt. Gern werden ja sonst auf musealen Leinwänden in Deutschland die altbekannten Blockbuster abgespielt, mit Verlaub: erfolgreich aber mutlos und langweilig.

Die Schirn Kunsthalle hat Mut.

Es ist gut, dass jetzt der Blick auf die heute fast unbekannte, auf die weibliche Seite des Surrealismus geweitet wird.

Wichtig ist, dass neben den wenigen großen Namen – von Frida Kahlo, über Meret Oppenheim bis Dora Maar – auch die vielen weniger bekannten Künstlerinnen ins Rampenlicht gestellt werden, gleichberechtigt in der Präsentation. Man kann diese Ausstellung als Wiedergutmachung am zeitweiligen Vergessen lesen. Das Politische wird zur Kunst, die Kunst zum Politischen und die Rezeptionsgeschichte selbst zum Politikum.

Der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main ist daher mit der Ausstellung »Fantastische Frauen« ein Coup gelungen. Eine der aufwendigsten Ausstellungen in der Geschichte der Kunsthalle. Die Kunstgeschichte wird endlich um ein wichtiges und eigenständiges Kapitel ergänzt. »Es sind die Künstler, die träumen für die Gesellschaft«, so Meret Oppenheim. Wir träumen nun gemeinsam.

»FANTASTISCHE FRAUEN. SURREALE WELTEN VON MERET OPPENHEIM BIS FRIDA KAHLO« bis 24. Mai 2020, SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT, Römerberg, 60311 Frankfurt, Di., Fr.–So. 10–19 Uhr, Mi. und Do. 10–22 Uhr