»Den lebendigen Marx wünsche ich auf meine Seite, den Marx, in dem das schöpferische Feuer so groß war, dass er sich nicht scheute, Irrtümer zu bekennen.« Dies schrieb Fritz Sternberg 1926 in seinem Vorwort zu seinem ersten großen Werk »Der Imperialismus«. Helga Grebing äußerte sich über ihn: »Als Marxist, der Marx nicht dogmatisch folgte, aber dessen analytische Methoden zur Erschließung einer sich verändernden Welt benutzte, war er das ›rote Tuch‹ für alle pro- und antimarxistischen Dogmatiker, sah sich von den stalinistisch gewordenen Kommunisten genauso angegriffen wie von den reformistischen sozialdemokratischen Arbeiterbürokraten.«
Sternberg, geboren am 11. Juni 1895 in der schlesischen Landeshauptstadt Breslau, stammte aus wohlhabendem jüdischem Bürgertum. Er war unorthodoxer Marxist und Linkssozialist, der durch ungewöhnliche wissenschaftliche Leistungen hervorgetreten war. Alle seine analytischen Untersuchungen führten ihn immer wieder zu dem Schlüsselsatz: »Sozialismus oder Absturz in die Barbarei.« Es ist die Einforderung von Gleichberechtigung und sozialer Gerechtigkeit, die ihn nicht ruhen ließ. Als freier Publizist in Breslau, Köln und vor allem Berlin war er in den Literaten- und Intellektuellen Zirkeln um Brecht, Döblin, Feuchtwanger, Piscator und als Mitarbeiter der »Weltbühne« gesucht, geschätzt und bewundert, aber auch gefürchtet als scharfsinniger Herausforderer in fruchtbaren Debatten.
Rückblickend auf diese Zeit nannte ihn Hans Mayer einen »jüdischen Danton«. Und Helga Grebing vermerkt, dass Sternberg zum wichtigsten Theoretiker des linken Jungsozialismus seit Mitte der 20er Jahre geworden war. Seinem Buch »Der Imperialismus« (1926) folgten »Der Niedergang des deutschen Kapitalismus« (1932), »Der Faschismus an der Macht« (1935), »Die deutsche Kriegsstärke. Wie lange kann Hitler Krieg führen?« (1938), »Kapitalismus und Sozialismus vor dem Weltgericht« (1951), »Marx und die Gegenwart« (1955), »Die militärische und industrielle Revolution« (1957) und »Wer beherrscht die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts?« (1961).
Während seiner Reisen nach Moskau 1929 und 1930 führte er Gespräche mit Varga, Radek und Bucharin über die schwierigen Probleme der Entwicklung in der Sowjetunion. Im März 1933 verließ er das nunmehr mörderische faschistische Deutschland. Über Prag, Basel und Paris emigrierte er in die USA, wo er bereits ein beachteter Schriftsteller war, dessen große Bücher zumeist zeitgleich in englischer Sprache erschienen waren. 1948 wurde Sternberg amerikanischer Staatsbürger. Er lebte abwechselnd in den USA und immer häufiger in Europa, vor allem in der Bundesrepublik Deutschland, wo er als Referent und Diskussionspartner in Veranstaltungen der SPD und der Gewerkschaften wirksam wurde. Er gehörte mit einer nur kurzzeitigen Unterbrechung als Mitglied der kleinen linkssozialistischen Partei, die Sozialistische Arbeiterpartei, keiner politischen Organisation an.
Fritz Sternberg, dessen publizistisches Erbe heute bedauerlicher Weise weitgehend unbekannt ist, starb am 18. Oktober 1963 in München.
Der Beitrag ist erschienen in LEIPZIGS NEUE im Juni 2015.
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