Sighard Gille in seiner Ausstellung

Der Maler als Fotograf mit der Lochkamera Foto: Daniel Merbitz

Lyrische Fotografie von Sighard Gille

Von Daniel Merbitz

Sighard Gille – geboren 1941 in Eilenburg, Studium an der legendären Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig (HGB) bei Bernhard Heisig und Wolfgang Mattheuer, Meisterschüler, Hochschullehrer – gehört zu den Matadoren der Leipziger Schule und hat Ikonen des sozialistischen Realismus geschaffen wie die Gemälde »Brigade Heinrich Rau« (1971) und »Brigadefeier-Gerüstbauer« (1975-77) und das über siebenhundert Quadratmeter umfassende Deckengemälde »Gesang vom Leben« (1980–81) im Neuen Gewandhaus zu Leipzig. Seine Beschäftigung mit der Fotografie steht am Anfang seines beruflichen und künstlerischen Lebenslaufes: In den Jahren 1960 bis 1965 absolvierte er eine Ausbildung zum Fotografen mit Facharbeiterbrief und war als Fotolaborant und Fotograf tätig.

Jetzt zeigt das Stadtgeschichtliche Museum in einer eleganten Kabinettausstellung Fotografien, die mit einer Lochkamera entstanden sind und setzt damit die gute Tradition der Fotografie- und Kunstausstellungen im Neubau, im Haus Böttchergäßchen, fort: von Günter Rössler bis Peter Ruta. Sighard Gille beschäftigt sich seit 1989 mit der Lochkamera, statt eines Objektives gibt es nur eine winzige Öffnung als Lochblende und dahinter einen Rollfilm. Dieses Prinzip der Camera obscura, welches früher zum Projizieren von Bildern genutzt wurde, erfordert Sensibilität und Erfahrung. Über beides verfügt Sighard Gille. Seine Arbeiten ziehen in den Bann, denn Belichtungszeiten, Lichtintensität und Lochdurchmesser beeinflussen das Ergebnis. Bewegungen werden nicht dargestellt oder sind verwischt durch die langen Belichtungszeiten, Szenerien wirken einsam, dies ist umso irritierender, wenn es sich um belebte und beliebte Ort, wie in New York, Rom oder Leipzig handelt. Zu sehen sind 60 Fotografien, beginnend mit seiner ersten New York Reise 1996, weiter über Rom, Jerusalem, London, Hamburg und natürlich Leipzig. Verfremdung, Weichzeichnung, Ruhe.

»Times Square« (1996), ein Handabzug vom Künstler, wo New York mit Schneeresten auf dem Gehweg zu sehen ist, menschenleer durch die lange Belichtung. So auch bei »Lower Manhattan, Twin Towers«, Schnee, Ampeln. Oder die zarte Seilstruktur bei »Brooklyn Bridge« (1996). Und als Fingerzeig zum eigenen, malerischen Werk eine stille Fotografie vom »Beckmann House« in New York? Ortswechsel: London, da ruht das »Grab Karl Marx« (2012). Dann weiter, Richtung Süden: Rom, die Ewige Stadt. Ein Lieblingsbild: »Pantheon«. Eindringlich: »Petersdom«. Wieder zu Hause in Leipzig. Stadtbilder. Die Architekturikone aus dem Leipziger Südwesten fehlt nicht: unsere »Könneritzbrücke«. Dann die »Freiheitssäule« an der Nikolaikirche: sonnenlichtgeflutet, Licht wie Wasser, es höhlt die Macht der Mächtigen und gibt sie den Ohnmächtigen, zu allen Zeiten, als Mahnung und Ansporn. Wozu braucht man ein teures Leipziger Freiheits- und Einheitsdenkmal, wenn man diese Fotografie hat, die den freien Geist und das Wunder der Gewaltlosigkeit feiert!

Sighard Gilles Fotografien mit der Lochkamera sind fotografierte Gedichte, poetisch, gefühlvoll, nachdenklich. Lyrische Fotografie. Die verschiedenen Serien darf man als Strophen verstehen, die einzelnen Fotografien als Verse. Ein Gesang vom Leben.

Diese Ausstellung wurde noch vom ehemaligen Museumsdirektor Volker Rodekamp initiiert und von seinem Nachfolger Anselm Hartinger dann sorgsam realisiert. Der Neubau ist in eine temporäre Kunstgalerie verwandelt worden. Der Staffelstab wurde souverän weiter gereicht.

Bereits die Vernissage bei schwül-heißem Sommerwetter wurde zum Gesamtkunstwerk aus Fotografie, Musik, Dichtkunst und Publikum: Mayjia (eigentlich Maja) Gille, Tochter des Künstlers, singt ergreifend vom Comandante Che Guevara, ein Statement, dies als erstes Lied zu wählen, begleitet von Simon Bodensiek am Saxophon und Arto Mäkelä an der Gitarre. Abschließen wird Mayjia Gille den Abend mit »Wenn alles nur so leicht wär wie in meinen Träumen.« Es ist manchmal luftig leicht, wie an diesem Abend. Wer diesen Gedanken und Melodien nachspüren möchte, dem sei die Band um Mayjia Gille empfohlen: »Eisvogel«.

Anselm Hartinger, der neue Museumsdirektor seit April 2019, betont den »Dialog der Metropolen«, der mit den Fotografien stattfindet und weist beim Begriff »Camera obscura« (lat. camera »Kammer«; obscura »dunkel«) noch auf eine andere Bezeichnung hin: »Camera lucida«, Raum der Erleuchtung. Und so lassen wir uns erleuchten und beeindrucken und zum Nachdenken verführen. Stille statt Stress.

Schriftsteller Peter Gosse – Grandseigneur der DDR-Lyrik, zusammen mit Volker Braun, Sarah Kirsch und Rainer Kirsch eine wichtige Stimme der Dresdner Dichterschule, Kunstpreisträger der Stadt Leipzig (1984), Heinrich-Heine-Preisträger des Ministeriums für Kultur der DDR (1985), Dozent des Leipziger Literaturinstitut »Johannes R. Becher« und 1993 dessen kommissarischer Direktor – hält die Laudatio auf Sighard Gille, spannt den Bogen und die Zitate von Richard Wagner über Georg Wilhelm Friedrich Hegel bis Thomas Mann und Volker Braun (hier kann man sie lesen.)

Nach den Worten und der Musik ergreift Sighard Gille das Wort, verweist darauf, dass er am 9. Oktober 1989 bei dem großen Leipziger Ereignis dabei war, auch 1968 bei der Sprengung der Universitätskirche und zeigt eine Mini-Performance: Er dreht eine mitgebrachte »68« um, die zur »89« wird. So kann man eine Linie ziehen zwischen zwei Punkten, die die Welt veränderten, zwei Dekaden – Gärzeit inklusive.

Lobenswert auch das ästhetisch ansprechende und großformatige Begleitheft (12,50 Euro): Sighard Gille für zu Hause! Diese wunderbare Ausstellung, die von der Volontärin und Kunsthistorikern Nadine Staab maßgeblich arrangiert wurde, lädt uns ein zum Verweilen, verspricht Abkühlung des sommerheißen Blutes und bringt eine Entschleunigung des verschwitzten und überdrehten Geistes. Und dies liegt am wenigsten an der Klimaanlage des Museums.

»Sighard Gille. Camera obscura.« bis 18. August 2019, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Haus Böttchergäßchen, Di–So 10–18 Uhr

Der Beitrag ist erschienen auf LEIPZIGS NEUE Seiten im Juli 2019