Bitte, recht freundlich!

Der Frühling kommt, und die Men­schen kriegen Lust – auf alles Mögli­che – z. B. aufs Fotografieren im Freien. »Bitte, recht freundlich!« sagte man da zum Foto­-Opfer vor gar nicht zu langer Zeit. Heute heißt es: »Sag mal cheese!« Dabei soll der Ab­zulichtende nicht etwa an das zu­gleich köstliche und stinkende Nah­rungs-­ und Genussmittel denken, sondern gemeint ist der Gesichtsaus­druck, der beim Sprechen dieses Wortes zustande kommt.

Da zieht sich der Mund in die Brei­te, die Oberlippe rutscht hoch, die Unterlippe herunter – und was wird sichtbar? Ein geblecktes Gebiss! Das soll wohl das moderne Pendant zum früheren lieblichen Lächeln sein. Doch mir sträubt sich die Feder bzw. die Tastatur meines Computers, diese Grimasse als Lächeln zu bezeichnen. Bestenfalls könnte sie als Grinsen durchgehen. Hunde und andere Haus­tiere, kleine Kinder und sensible Er­wachsene erschrecken davor, sie em­pfinden sie als aggressiv.

Doch das »neue Lächeln« erobert immer mehr Bereiche: Werbung, Film, Fernsehen, Familienfotos zei­gen öfter gebleckte Zähne von fröh­lich scheinenden Menschen. Wer hat sich das ausgedacht? Beim Pferde­kauf sieht man dem Pferd zuerst ins Maul und dann auf das Übrige. Heute lacht man nicht mehr mit dem ganzen Gesicht, sondern mit den Zähnen. An den Beißwerkzeugen wird erkannt, ob ihr Besitzer dem gültigen Standard entspricht. Das Lächeln soll nicht menschlich sein, sondern standardi­siertes Besitztum anzeigen. Und wenn der Mensch zu diesem Zweck die Zähne fletscht, so dass arglose Gemü­ter erschrecken, dann ist das eine ungewollte Nebenwirkung -oder hat sich hier ein Wandel des ästhetischen Empfindens vom freundlichen Ge­sicht zum aggressiven vollzogen?

Der Beitrag ist erschienen in LEIPZIGS NEUE, Ausgabe März 2014