Lebewesen

In Nachbars Garten stand eine große, goldgelbe Rose. Jeden Morgen ging ich daran vorbei und steckte meine Nase zwi­schen die Zaunlatten, um ihren intensiven Duft zu genießen. Dabei musste ich feststellen, dass sie von Tag zu Tag kläglicher aussah. Wurde sie etwa nicht gegossen? Ich machte die Nachbarin darauf aufmerksam. »Ach die - die habe ich vergessen, die sollte auch mit weg.« »Wieso weg ­das ist doch eine beson­ders schöne Rose?« »Ach Blumen - was soll ich da­mit - und bei Rosen ver­fitzt sich unser Hund immer in den Dornen das Fell.« Wie zur Bestäti­gung kam ihr asiatischer Hirtenhund um die Ecke gesaust, dass seine lan­gen silbergrauen Zottel­haare flogen. Die Frau wies mit der rechten Hand auf ihn: »Wie soll ich diese Haare glatt krie­gen, wenn sie jeden Tag verfitzt sind? – Diese Rose muss auch weg.« »Aber dann geben sie sie doch jemandem für sei­nen Garten,« sagte ich eingeschüchtert. Die Frau streifte mich mit einem leicht verächtlichen Blick und ging ins Haus.

Am nächsten Tag war die Rose verschwunden. Die Frau sammelte Zweige vom Boden auf, im Hintergrund ratterte die Häckselmaschine. Ich fragte sie vorsichtig, wo die Rose sei. »Die hat mein Mann gerade im Häcksler«. »Waas?« rief ich und machte wahrscheinlich ein ent­setztes Gesicht, denn die Frau wollte mich beruhi­gen: »Aber es ist doch nur eine Pflanze.« »Pflanzen sind auch Le­bewesen,« sagte ich. Die Frau riss die Augen auf und blickte mich un­gläubig an: »Leebewee­sen?« »Ja,« sagte ich, drehte mich um und ging ins Haus.

Der Beitrag ist erschienen in LEIPZIGS NEUE, Ausgabe Juli 2014