Der schiefe Baum

In unserer Siedlung sind einige Bäume weit über die Dächer der Häuser hinausgewachsen. Eine Föhre fällt auf durch ihre skurrile Form: Sie steht windschief, mit zerzauster Krone. Ein langer breit ausladender Ast neigt sich über das darunter stehende Haus, so dass es aussieht, als halte sich der Baum mit einem langen Arm am Dach fest. An der entgegengesetzten, der Wetterseite ind die Äste weggebrochen oder haben sich gar nicht erst ausgebildet.

Was ist hier passiert? War das der Wind. der von Nordwesten kommt, sich in der Ebene Kraft holt und mit Wucht in die Siedlung fährt? Doch die anderen Bäume stehen gerade. Hat es einen Eisregen gegeben. der sich in den gefiederten Zweigen der Kiefer sammelte? Oder nasser Schnee nistete sich zwischen den langen Nadeln ein und riss die Äste herunter? Ich frage die Bewohner des Hauses, die im Garten unter dem Baum werken: »Wissen sie, warum ihr Baum so schief steht?« »Der Baum – welcher Baum?« fragt die Frau zurück. »Dieser Baum­­­ hier, der große, direkt vor ihrem Haus.« »Ich weiß nicht, ­Gustav, weißt du, warum der Baum schief ist?« wendet sie sich ihrem Mann zu. »Wel­cher Baum?« »Na, der hier, vor dem Haus.« »Der ist schief? Wieso?« »Die Frau hier sagt es.« »Ich weiß nicht,« der Mann zuckt die Achseln und gräbt mit dem Spaten weiter in der Erde.

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Ich frage die Frau, ob sie noch nicht lange hier wohnen. »Ach, wir woh­nen schon lange hier, ­ lange – « sagt sie mit einer ausladenden Arm­bewegung. »Und sie wissen nicht, seit wann der Baum schief ist?« frage ich. »Nein – ist er denn schief?«

Der Beitrag ist erschienen in LEIPZIGS NEUE, Ausgabe September 2014