Computerkind

Seit die Informatik entstanden ist, finden es viele Wissenschaftler reizvoll, zu versuchen, die menschliche Intelligenz auf künstlichem Wege nachzuahmen. Doch sie waren nicht weiter gekommen, als per Computer einfache formallogische Operationen zu vollführen, statt kreatives Denken zu entwickeln. Deshalb waren schon im vergangenen Jahrhundert einige Forscher auf die Idee gekommen, den Erkenntnisprozess des in der physischen Welt lebenden Menschen künstlich nachzuvollziehen. Sie entwickelten Roboter, die über Tastorgane die Umwelt erfassen und so allmählich – wie ein Kind – zur Erkenntnis der äußeren Welt und damit zum Denken gelangen können. Das zehnjährige Bestehen eines der besten Robotikprojekte dieser Art, des »iCub«, und damit eine Umwälzung in der Wissenschaft der Informatik, wurde in diesem Jahr international groß gefeiert. Ja, zum Donnerwetter! Nachdem sich die Menschheit durch ihre Überzivilisation und Übertechnisierung aus der natürlichen Welt so weit wie möglich herauskatapultiert hat, lernt sie nun mühsam und auf Umwegen, sich wieder der Realität zu nähern. Das, was dem Alltagsmenschen selbstverständlich ist, wenn er einen ihm unbekannten Gegenstand erkennen will, dass er ihn befühlt, beriecht, eventuell daran leckt und ihn in seiner Funktionsweise mit allen Sinnen beobachtet – das ist für die Wissenschaftler jetzt zu einer ganz neuen Erkenntnis geworden! Wie konnten sie jemals auf die Idee kommen, menschliches Denken durch abstrakte Computerschaltungen simulieren zu können? Hat denn jemand schon mal ein einzelnes Gehirn die Straße entlang laufen sehen, das fröhlich vor sich hin denkt?

Der Beitrag ist erschienen in LEIPZIGS NEUE, Ausgabe November 2014