81 Prozent der deutschen Bevölkerung sind der Meinung, man solle die Erinnerung an den Holocaust hinter sich lassen, und 58 Prozent wollen einen totalen Schlussstrich ziehen. Franz Josef Strauß hatte seinerzeit, unter dem Eindruck des Wirtschaftswunders der alten BRD, gesagt: »Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen«. Was haben starke Wirtschaftsleistungen eines Volkes mit der Erinnerung an die Schandtaten seiner eigenen Geschichte zu tun? Nichts, aber auch gar nichts! Doch die Heutigen meinen, die lange Zeit von 70 Jahren, die seitdem vergangen ist, müsse die Schuld getilgt haben. Die heute Lebenden haben tatsächlich keine Schuld daran, doch die Frage, wie das geschehen konnte, bleibt bestehen. Denn heute ruft wieder eine nicht unbeträchtliche Zahl von Menschen zu Intoleranz, Fremdenhass, nationalistischer Abschottung und Gewalt auf. Doch führen unsichere soziale Verhältnisse und Zukunftsängste unausweichlich zu einer solchen Haltung? Können die von prekärer Lage Betroffenen nicht ebenso gut die Hintergründe der sozialen Schieflage erkunden und gegen deren Ursachen kämpfen, statt unschuldige Menschen zu bedrängen?
»Erinnern« ist ein altes und inhaltschweres Wort. Es kommt aus dem althochdeutschen »innaron«: »machen, dass jemand einer Sache inne wird«. Es fordert auf zum ganz persönlichen Durchleben der zu erinnernden Sache. Dazu gehört das Wissen dessen, was war und warum: Warum Deutschland zwei Weltkriege entfacht und fast sechs Millionen europäische Juden auf systematische Weise ermordet hat – dieser Erkenntnis dienen nicht oberflächliche Betroffenheitsreden und pathetische Schuldverweise.
Der Beitrag ist erschienen in LEIPZIGS NEUE, Ausgabe Februar 2015