Neulich zeigte mir die Nachbarin ihre neu gekauften Kaninchen. »Sind sie nicht niedlich? Für die Tochter, die wird sich freuen, wenn sie aus der Schule kommt. … und wenn Sie altes Brot haben – ehe Sie es wegwerfen – das knabbern die besonders gern.« Ich wurde verlegen, »Tja, ich hab’ so was nicht – ich werfe überhaupt keine Lebensmittel weg.«
Die Frau blickte mich entgeistert an: »Was, Sie werfen keine Lebensmittel weg?« Das verschlug mir die Sprache. Offensichtlich gibt es eine größere Gruppe von Menschen, für die es zur selbstverständlichen Lebensweise gehört, Nahrungsmittel wegzuwerfen – so wie man es gewohnt ist Müll wegzuwerfen.
»Brot ist heilig«, stammelte ich, »das wirft man nicht weg – hat meine Oma gesagt – man kann es ditschen, einweichen – und in der Hungerszeit, im Krieg, und vor allem nach dem Krieg – da war uns jedes Stückchen Brot heilig«. Die Frau setzte ein verständnisvolles Gesicht auf: »Naja, wenn man religiös ist – und im Krieg, natürlich – doch diese Zeiten sind zum Glück schon lange vorbei.« Und sie blickte ein wenig herablassend auf mich, zuckte mit der rechten Schulter und drehte sich weg. »Nein, nein, das ist es nicht!«, wollte ich fast schreien, doch sie war schon im Haus verschwunden. »Nein« rief ich ihr lautlos hinterher, »nicht Religion noch Hunger sind der Grund dafür, dass Brot uns heilig ist, sondern weil Brot – der Inbegriff von Nahrung überhaupt – unsere Lebensgrundlage ist, die die Natur uns gibt, aus der wir selber hervorgegangen sind!«
Der Beitrag ist erschienen in LEIPZIGS NEUE, Ausgabe November/Dezember 2015