Jubiläen sind Wiederholungstaten. Sie finden alle fünf Jahre stets aus ein und demselben Anlass statt. Ein Jubiläum soll sich ins Bewusstsein der fürs Jubilieren Auserkorenen einprägen, damit sie auch beim nächsten Mal noch wissen, worum es ursprünglich eigentlich ging. Deshalb werden alle fünf Jahre die nur unwesentlich variierten Reden nicht nur aus den Schubladen gezogen, sondern auch gehalten. Oft zum Leidwesen der zum Zuhören Verdammten. Es ist ein bisschen so, wie bei bedeutenden Persönlichkeiten, die ein gewisses Alter erreicht haben. Da liegen die Nachrufe auch griffbereit in den Schreibtischen und können zum gegebenen Zeitpunkt, um wenige letzte Nuancen ergänzt, unverzüglich unters Volk gebracht werden. Wie so oft, macht nur ein kleines Detail den großen Unterschied, denn im Gegensatz zu Nachrufen muss ein Jubiläum nicht ergänzt werden, weil der Anlass immer gleich bleibt. Das macht Jubiläen so nervig anstrengend.
Als vor 25 Jahren ein sichtlich überforderter Genosse Schabowski den Fall der Fälle, den der Mauer, von einem Zettelchen herunterstotterte, hätte man wissen können, welche Konsequenz sich daraus ergeben musste. Ein jubiläumsverdächtiges Datum hob sich krachend vom Kalenderblatt ab. Und so kam es dann ja auch.
Seit einem Vierteljahrhundert dräut und drängt es auf uns herab, das Ereignis. Einseitig, versteht sich, denn es gilt nach wie vor Abbas Gesetz: the winner takes it all.
Also liegen sich schon lange vor dem Gedenktag auf den Flachbildschirmen die Menschen in den Armen, die einen lachend, die anderen weinend, knutschen junge Frauen die uniformierten Grenzer ab, erklären diesen Tag zum schönsten ihres Lebens, sorgen Wartburg und Trabant für ungewohnte Zweitaktgerüche im Westteil der Stadt. Berlin, nun freue dich. (Walter Momper, ehemals Regierender Bürgermeister einer selbständigen politischen Einheit) Die Zeit der Stadt als »Pfahl im Fleisch der DDR« (Ernst Reuter) war endgültig vorbei.
Kein schöner Land in dieser Zeit. Seit Wochen kaum ein Fernsehfilm, kaum eine Theaterproduktion, die sich der Thematik nicht erbarmt. Und der Zuschauer schon erst recht nicht. Selbige sitzen in der ersten Reihe und begaffen das Leben der Anderen in Weißensee in Zeiten des abnehmenden Lichts. Nach einem Vierteljahrhundert sind die Himmelsrichtungen außer Kraft gesetzt. Wir kennen nur noch Osten und Westen. Nord und Süd finden als Gefälle ausschließlich in der Bundesligatabelle Erwähnung.
Eine Supermarktkette verlost 25 Trabifahrten à drei Stunden zu welchen historischen Stätten des Gedenkens auch immer. Weiße Luftballons steigen zu tausenden heliumgefüllt in den Himmel und markieren den ehemaligen Grenzverlauf. Kirmes und Wurstbudenzauber an allen Ecken und Enden der Stadt.
Kann man Günther Schabowski dafür verantwortlich machen? Mitnichten, es ist das ureigenste deutsche Dilemma, das weder Ochs noch Esel aufzuhalten in der Lage waren.
So mag es Sie, lieber Leser nicht weiter verwundern, dass auch ich mich auszugsweise eines Textes besinne, den ich anlässlich des zwanzigsten Jahrestags vor fünf Jahren veröffentlicht habe: »Bleibt trotzdem schade drum. Warum? Weil nach hoffnungsvollem Beginn aus den Ruinen des Weltkriegs heraus eine Chance auf unabsehbare Zeit vertan wurde, die vielen Menschen Hoffnung war und deren Umsetzung sie gerade heute so dringend bedurft hätten. In einem alten Lied aus dem Bauernkrieg nach der Niederlage im Jahr 1525 heißt es: ›Geschlagen ziehen wir nach Haus, die Enkel fechten's besser aus.‹ Wer weiß, vielleicht klappt es ja irgendwann, man soll die Hoffnung nie aufgeben, sie stirbt nach traditioneller Überlieferung erst ganz zuletzt. Und es bleibt schade drum, weil leuchtendes Rot einfach besser zu sehen ist. Trotz alledem.«
Der Beitrag ist erschienen in LEIPZIGS NEUE, Ausgabe November 2014